Das ist ein Film, der bei der diesjährigen Berlinale im ohnehin gut bestückten Panorama-Angebot gezeigt wurde und dem man, mit erwartbaren Preisaussichten eine Wahl in den internationalen Wettbewerb gegönnt hätte.
Schul-Filme besetzen spätestens seit FEUERZANGENBOWLE (1944) ein gern gesehenes, spezielles Genre; sind aber nicht immer so beeindruckend und überzeugend, wie in diesem Fall. Die junge Lehrerin Carla Nowak hat ihren eigenen Umgang mit den Kindern in einer nicht eben einfachen Klasse – aber sie packt es irgendwie. Das heißt, mit einer gleichermaßen respektvollen wie respektablen Mixtur aus liebevoller Zuneigung und energischem Anspruch. Aber sie wird scheitern an diesem aus den Fugen geratenen allgemeinen Missverständnis von Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrechten, die zu Rechthaberei und Anmaßung mutiert sind. Sowohl Kollegen wie vor allem auch die ohnehin besserwissenden Eltern werden ihren pädagogischen Ansatz offensiv behindern.

Die Hauptdarstellerin Leonie Benesch (DAS WEISSE BAND, 2009) war zudem Berlinale-Shooting-Star. Sie spielt eine Lehrerin, wie man sie selbst gern gehabt hätte und wie man sie sich für die eigenen Kinder wünscht.
Wie kam es zur Besetzung von Leonie Benesch?
Ilker Çatak:
„Also, wir haben schon beim Schreiben an Leonie gedacht und wussten auch relativ früh, dass diese Figur Carla Nowak von der Physiognomie so ähnlich ist wie Leonie. Ich wusste, dass ich mit Leonie arbeiten will. Aber man kann ja schreiben und noch so viel schreiben – wenn die Schauspielerin es nicht machen will, dann kann man nichts tun. Nun ist es aber so gekommen, dass Leonie das Buch gut fand und mit mir arbeiten wollte und ehrlich gesagt war sie einfach nur ein großes Geschenk. Sie ist so klug und sie liest den Text, verinnerlicht den, kommt ans Set und macht ein Angebot. Man muss eigentlich keinen zweiten Take drehen, es sei denn, man will noch eine Alternative… Sie hat einfach eine Intuition, wo ich als Regisseur gar nicht viel tun muss, so dass ich im Grunde nur gesagt habe: „Danke Leonie, fantastisch!“. Und ich glaube, das war für sie manchmal auch irritierend.“
Wie haben Sie für diesen Film recherchiert?
Leonie Benesch:
„Ich habe nicht viel recherchiert. Ich habe sehr auf das wunderbare Buch von Johannes Duncker und Ilker Çatak vertrauen können. Alles, von den Dialogen, den Regieanweisungen und wie die Dinge beschrieben wurden, war unglaublich gut recherchiert. Wenn man so ein Buch vor sich liegen hat, dann muss man eigentlich nur noch den Text lernen und die Wahrhaftigkeit in jeder Szene spielen. Dann geht es um Tempo, und dann geht es darum, dass es richtig inszeniert wird, und das macht Ilker. Man versucht, rauszufinden: muss es in dem Teil der Szene lauter sein oder in dem, oder muss es überhaupt laut sein? Oder ist das alles ganz leise? Das hat alles das Buch hergegeben… Ilker hat an einer Schule in Hamburg hospitiert und hat mir davon erzählt. Und das war total hilfreich. Er hat mir das sozusagen auf dem Silbertablett serviert und ich musste es nur noch aufessen.“
Filmemachen mit Kindern ist ja grundsätzlich eine Herausforderung. Wie war die Arbeit?
Ilker Çatak:
„Also zunächst einmal gab es recht umfangreiche Castingrunden. Ich habe die Kinder selbst gecastet. Ich habe mich hingestellt und habe eine Szene gespielt, wo die Kinder improvisieren sollten. Die Aufgabe war: ihr wollt zur „Fridays for Future“ Demo und ich lass euch nicht, so! Und in diesen Impro-Sessions habe ich dann relativ schnell gemerkt, welches der Kinder auf Zack ist, welches Kind man mitnehmen kann. Es hat sich dann eine Truppe geformt, die wir in Einzelgesprächen noch mal gebrieft haben, wo ich den Kindern gesagt habe: „Hey Leute, passt auf, ihr seid jetzt nicht mehr die Kinder, sondern wir sind Kolleginnen und Kollegen auf Augenhöhe. Und das, was wir hier machen, ist größer als wir. Dieser Film wird uns überdauern. Irgendwann wird es uns nicht mehr geben – aber diesen Film!“ Und das haben die Kinder tollerweise verinnerlicht. Das ist übrigens auch das was, was für mich gute Lehrer ausgemacht haben in meiner Schulzeit, nämlich dass sie mir nicht nur das Handwerk für eine Sache beigebracht haben, sondern auch die Philosophie dahinter. Und ich hoffe, dass ich diesen Kindern irgendwie ein Quäntchen Bewusstsein mitgegeben habe, was es bedeutet, Kunst zu machen.“
Leonie Benesch:
„Das war sehr laut. Also der Lärmpegel ist tatsächlich etwas, das ich total krass finde. Und ich verneige mich vor jedem Menschen, der diesen Beruf ergreift. Es wurde auch improvisiert. Also, wir haben in den großen Klassenszenen, wo Carla durch die Gänge geht und korrigiert, sehr viel spontan gemacht… Doch ich wusste dann, wo ich ungefähr stehen bleiben soll, um das zu machen, worauf die Kinder antworten sollen. Das war schon eine Mischung aus choreografiert, aber auch frei. Und ich glaube, das Großartige was Ilker gemacht hat, ist, man hat sich jeden Morgen Zeit genommen, um mit den Kindern zu sprechen. Über lebensrelevante Themen – wie und was bedeutet es, sich zu entschuldigen? Und dann gab es kleine Diskussionen zwischen den Schülern und da hat dann (Kamerafrau) Judith Kaufmann einfach draufgehalten mit der Handkamera und es sind viele tolle Bilder entstanden, die es dann auch in den Film geschafft haben.
Ilker begegnet seinen Schauspielerinnen und Schauspielern auf Augenhöhe, das ist das Besondere. Er war die Ansprechperson für alle Kinder und war auch ihr bester Freund. Ich habe mich da ‘rausgehalten. Weil ich davon ausgegangen bin, dass, wenn ich mich da so ein bisschen emotional abgrenze, wenn die Kamera dann auf mir ist und ich anfange zu sagen „Eh, Ruhe!“, dass sie dann auch tatsächlich in dem Moment spontan reagieren. Weil das mit einer fremden Person natürlich immer besser klappt als mit jemandem, den man schon kennt.“
Die junge Lehrerin Carla ist neu am Gymnasium, unterrichtet Mathematik und Sport und gerät ziemlich abrupt in komplizierte Situationen. Einer ihrer Schüler, ein türkischer Junge, wird zu Unrecht als Dieb „entlarvt“. Um die Diebstahlsproblematik an der Schule zu entspannen, stellt Carla im Lehrerzimmer mit ihrem Handy eine ziemlich simple Videofalle, in der sich eine Sekretärin (zumindest ihre Bluse) verfängt. Das wiederum wird zu einer Vorlage für widerspruchsvolle bis gehässige Folgen…
Sie erlebt eine komplizierte Situation, sowohl mit diesen Kindern wie auch mit den Kollegen. Und es ist beeindruckend, wenn man sie als Lehrerin sieht – dennoch gerät dieser positive Kurs aus dem Ruder. Woran liegt‘s?
Ilker Çatak:
„Tja, woran liegt’s? Ich weiß nicht, ob es an ihr liegt oder ob es an der Schieflage, die davor schon geherrscht hat, oder an den Strukturen, in die sie dann gerät? Aber sie hat natürlich Anteil daran und sie macht einen Fehler. Ich will jetzt nicht verraten, was dieser Fehler ist, aber ich glaube, das ist ja dieses interessante Phänomen, dass wenn man glaubt, alles richtig zu machen, man dann manchmal auch was Falsches macht. Und das widerfährt dieser Filmfigur.“
Leonie Benesch:
„Da kann ich jetzt nur wiederholen, was Ingo Fliess, unser Produzent, gesagt hat. Ich finde es tatsächlich auch schockierend, wenn man sich überlegt, dass sich das System Schule seit 40 Jahren nicht verändert aber unsere gesamte Welt sich umgedreht hat. Und das Thema Wissen – alles einfach auswendig lernen – das ist kompletter Bullshit. Man muss wissen, wie man an die Informationen rankommt, aber wir brauchen komplett andere Skills als das, was uns das System Schule nach wie vor reindrückt.“
Im Laufe des Films spitzt sich die Situation für Carla immer mehr zu. Wenn irgendwann ihre eigenen Aussagen gegen sie verwendet werden und sowohl Lehrerkollegium, Eltern und sogar einige Schüler sich gegen sie positionieren, wird es existenziell. Sie muss darum kämpfen, weiterhin ihren Beruf ausüben zu können. Aus dem Miteinander wird ein Gegeneinander.
Ilker Çatak:
„Für mich ist Carla eine absolute Heldin. Ich bewundere sie dafür, dass sie diesem Druck mit so viel Tapferkeit standhält, dass sie sich auch im Laufe der Geschichte ganz toll und stark emanzipiert von den Druckmechanismen, die auf Sie ausgeübt werden. Dass sie so viel Liebe hat für ihre Schülerinnen und Schüler, und dass sie bis zuletzt wirklich daran festhält, woran sie glaubt. Und deswegen ist sie für mich auch ‘ne Heldin und keine Person, die scheitert. Ich würde mir wünschen, mehr Menschen wie sie zu sehen. Ich hoffe, dass sie vielleicht sogar die eine oder andere Person dazu inspiriert, diesen Beruf zu ergreifen, auch wenn sie wirklich durch eine schwierige Zeit geht in diesem Film.“
Der Film ist von der ersten Minute spannend und bleibt es, bis zum Schluss. Nichts wirkt inszeniert oder übertrieben – von den heimlichen Gesprächen im Lehrerzimmer, der Gruppendynamik in den Klassen, einem entgleisenden Elternabend und all den kleinen wie großen Details aus dem Schulalltag. Regisseur Ilker Çatak und seine Kamerafrau Judith Kaufmann bleiben die ganze Zeit nah an Carla und man erlebt als Zuschauer die wachsende Unsicherheit hautnah.
Leonie Benesch:
„Ich habe den Film erst zweimal gesehen und ich versuche zu überlegen, an welchem Zeitpunkt hätte welche Entscheidung anders getroffen werden sollen. Ich weiß es tatsächlich nicht! Ich glaube, es liegt daran, dass Dinge schiefgehen, weil Dinge nun mal schiefgehen können – egal wie idealistisch man ist.“
Es ist keine neue Erkenntnis, dass die Schule auch ein Spiegelbild der Gesellschaft ist. Trotzdem erlebt man es selten so klar, wie in diesem Film. Nicht ohne Grund wurde DAS LEHRERZIMMER sieben Mal für den Deutschen Filmpreis nominiert – unter anderem für Regisseur Ilker Çatak und Hauptdarstellerin Leonie Benesch.