Es ist schon so, wenn jemand einen erfolgreichen Roman, einen Bestseller zudem, verfilmt, wird es mit Sicherheit unterschiedliche Ansichten geben, denn die beiden Medien bieten jedwedem Stoff unterschiedliche Bühnen. Für den Einen wirkt nun einmal das Eine mehr als es dem Anderen gefällt…
Vorausgesetzt natürlich, dass die Macherinnen in beiden Fällen ihr Handwerk verstehen – und das kann hier mit gutem Gewissen bekräftigt werden.
Es geht also um die Filmfassung eines überaus erfolgreichen Romans (übersetzt in 37 Sprachen) von Julia Franck – DIE MITTAGSFRAU. Protagonistin ist Helene, und dargestellt wird diese junge Frau von einer intensiv und sehr glaubwürdig aufspielenden Mala Emde (UND MORGEN DIE GANZE WELT, 2020).

Mala Emde:
„Also vielleicht vorab: Für mich ist DIE MITTAGSFRAU ein Film, der die Geschichte des 20. Jahrhunderts aus einer weiblichen Perspektive erzählt, wie wir es zuvor noch nie gesehen haben. Und ich finde, das ist eigentlich das, worum es am meisten in diesem Film geht – dass wir Geschichte durch die weibliche Perspektive gezeigt bekommen. Und dabei begegnet Helene zwei Männern – zunächst Karl, ihrer großen Liebe. Wo wir auch sehen, was wahre Liebe bedeuten kann, was auch gleichberechtigte Liebe bedeuten kann. Wie wunderschön wild das sein kann – verrückt!“
Helene ist ein Kind, das unter nicht eben einfachen Verhältnissen in ihrer bürgerlichen Bautzener Familie aufwächst. Der Vater starb unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkriegs an seinen Kriegsverletzungen, ihre jüdische Mutter – psychisch angeschlagen – trauert um die Söhne und ignoriert die Töchter. Und also klammert sich Helene an ihre ältere Schwester, mit der sie eines Tages zur Tante Fanny nach Berlin zieht. Dort lernt sie bei der lebenslustigen Fanny die gerade auf Hochtouren laufenden „Goldenen 20er“ kennen.
Mala Emde:
„Helene ist eine Frau, die ihrer Zeit voraus ist. Sie ist neugierig, selbstbestimmt und steht für sich ein. Ein freiheitsliebender Mensch. Aber dann, durch die Zeit, durch die wir mit ihr gehen, wird sie immer mehr eingesperrt. Und wir sehen, was das mit einer Menschenseele macht…“
Die Autorin hat eine bemerkenswert konkrete und gleichermaßen poetische Sprache gefunden, die es dem Leser ermöglicht, die Dinge zu sehen, fast zu schmecken und zu riechen. Dazu kommen intelligente, aber nie vordergründige kulturhistorische Querverweise, die eine oft gezeigte Stadt – Berlin – in einer oft beschriebenen Zeit – 20er Jahre – durchaus neu und eher beiläufig spüren lassen.
Barbara Albert:
„Ja, das ist gar nicht so leicht. Es gab da natürlich schon BABYLON BERLIN. Das sind große, große Räume, große Welten. Zum Teil auch mit diesen Mega-Tanzszenen. Da haben wir einfach gesagt: Okay, das können oder wollen wir gar nicht. Wir konzentrieren uns auf unsere Hauptfigur und schauen, wie sie das erlebt. Also wir gehen mit ihr zu der Party ihrer Tante und brechen das ein bisschen mehr ins Normale runter.“
Auch hier gibt’s viel Party mit Charleston und Champagner. Aber es ist irgendwie auch banal, nicht so überlackiert, sondern manchmal eher dürftig und also viel authentischer.
Helene emanzipiert sich schließlich irgendwie aus diesem Milieu. Sie findet im Literaturstudenten Karl einen Freund und Liebhaber, der allerdings bald zu Tode kommt und lernt dann einen anderen Mann kennen…
Mala Emde:
„Als Karl dann gestorben ist, taucht Wilhelm in ihrem Leben auf, der Nationalsozialist ist, gespielt von Max von der Groeben. Und die beiden begeben sich in eine Beziehung der Co-Abhängigkeit in gewisser Weise. Wilhelm, weil er sich unsterblich in Helene verliebt. Und Helene braucht Wilhelm, um als „Halbjüdin“ überleben zu können. Und ich sehe darin den Kern dieser Beziehung. Vor allen Dingen, weil Wilhelm sie immer mehr einsperrt. Und ich finde, Max von der Groeben hat es so gespielt, dass wir sehen, dass sie miteinander ringen. Insofern hat es fast etwas Ingmar Bergmansches. Dass wir zwei Menschen sehen, die miteinander, umeinander kämpfen. Um ihre Liebe kämpfen, um ihr Dasein kämpfen. Vor allem, dass Helene trotz allem bei sich bleiben kann, dass sie nicht gebrochen wird.“
Im Übrigen ist es ein enormer Vorzug des Buches, aber ebenso auch des Films, dass der gefährliche Gang der Zeit nicht mit seinen bestens bekannten Symbolen und Zeichen, wie straffen Aufmärschen oder einer Überfülle von Hakenkreuz-Fahnen geliefert wird, sondern dass die Welt sich schleichend ändert und das „Volk“ zunächst gar nicht spürt (oder nicht sehen will), welches Unheil es da gewählt hat. Die schrecklichen Dinge geschehen vorerst am Rande, eher nebenher, wie in einer angedeuteten Euthanasie-Szene und beim Besuch der Mutter in der Nervenklinik.
Barbara Albert:
„Ja, es ist im Privaten. Also ich finde es auch extrem interessant zu überlegen: Wie spürt Helene im Privaten diese Veränderung oder wie spüren unsere Figuren im Privaten diese Veränderung? Und nicht: Ich bin da bei einem großen Marsch dabei oder wir sehen das, was wir sowieso in den Dokumenten, die wir aus der Zeit haben, sehen würden. Wir stellen uns lieber vor, was in sich den Familien abgespielt hat.
Und ich glaube eben, dass das Politische auch privat ist, oder dass das Private politisch ist, und dass diese Unterdrückung in der Familie letztlich genau das widerspiegelt, was außen war. Und der Feind ist zu Hause, bei Helene, die nicht mehr sie selbst sein darf. Das ist ja viel spannender für mich, als wenn ich Hakenkreuze sehe, weil ich mehr nachvollziehen kann, was es wirklich bedeutet, im unmittelbaren, im alltäglichen Leben.
Und ich befürchte tatsächlich, dass wir uns auch heute in vielen Punkten schuldig machen und ganz viel ausblenden. Da gibt es durchaus übertragbare Dinge.“
Mala Emde:
„Ich finde, das ist eine große Stärke von DIE MITTAGSFRAU. Das macht den Film auch so heutig, weil man merkt, wie diese von Männern gemachte Geschichte ein persönliches Leben extrem einschränken kann. Wir sehen aber nicht die Politikerinnen oder die Massen. Wir sehen es nur an einem Leben und was das auslösen kann – also wie sich eine Diktatur auf ein kleines Leben in vier Wänden auswirken kann. Und das ist hochaktuell!“
Helene bekommt eine neue Identität, sie heißt jetzt mit falschen Papieren Alice und ist ihrem immer mehr deutschnational agierenden Mann völlig ausgeliefert.
Max von der Groeben:
„Wir wollten aber nicht das böse Nazi-Monster darstellen, weil dann auch die Frage wäre, warum lässt sich Helene überhaupt auf diesen Mann ein? Sondern wir wollten, dass er auch ein bisschen menschliche Züge hat oder eben auch einen gewissen Charme am Anfang. Er kommt ja mit einer gewissen Naivität in das Leben von Helene.
Es ist eben ein schleichender Prozess, wie es zum Nationalsozialismus kam, was irgendwie noch beängstigender ist. Das macht den Film wiederum aktuell, weil wir wissen alle, wie es gerade in Europa und auch in Deutschland so steht. Und ich glaube, wir können nicht oft genug darüber sprechen und an diese dunkle Zeit zurückerinnern.“
Schon kurz nach der Eheschließung zerbricht die Beziehung der Beiden, obwohl Helene schwanger ist. Sie muss das Kind allein durch die Kriegszeit bringen.
Mala Emde:
„Ich spiele Helene von 16 bis 46 und Barbara Albert hat es durch ihre Inszenierung geschafft, dass es nicht so ein typisches Biopic wird, wo wir versuchen, irgendwie alles hineinzuquetschen, sondern ich hatte das Gefühl, wir sind immer ganz nah bei Helene. Und das, finde ich, ist ein Riesentalent von Barbara.
Für mich war es immer wichtig, dass Helene ein ganz großes Herz hat, und dass wir das am Anfang sehen. Egal, was ihr passiert – und es passiert so viel – dass wir immer durchschimmern sehen, dass da dieses Herz pocht und das es dafür kämpft, weiterpochen zu können. Das war eine große Herausforderung! Dabei war es aber eine wahnsinnig freie und lustvolle Arbeit. Barbara ist sehr genau und sehr humorvoll in ihrer Inszenierung.“
Natürlich wird manchem manches aus dem umfänglichen Buch fehlen. Jedoch, die Regisseurin und die Drehbuchautorin Meike Hauck haben diese Sprünge über Zeiten und Räume subtil realisiert und die Inszenierung hat auf bewundernswerte Weise dem Film ohne vordergründige Effekte, aber mit fast impressionistischen Übergängen via Kamera und Schnitt das Seine gegeben.
Mala Emde:
„Für mich lädt diese Geschichte einer Frau dazu ein, dass wir uns alle fragen: Wo kommen wir her? Und das macht uns aus. Woher komme ich? Was haben meine Eltern Unerklärliches getan?
Also ich kann das sagen: Eltern tun oft Unerklärliches – wahrscheinlich, weil sie unser Leben retten wollen. Einfach die Geschichte erzählt zu bekommen – Warum habt ihr so gehandelt?“