Als Special auf der diesjährigen Berlinale lief TREASURE, basierend auf dem Roman „Zu viele Männer“ („Too Many Men“) der australisch-amerikanische Schriftstellerin Lili Brett.
Als junge Frau hat Brett für ein Rockmagazin gearbeitet und die ganz großen Stars wie Jimi Hendrix oder Mick Jagger interviewt. Sie hat Lyrik geschrieben und dann, seit den 1980ern, sensationell erfolgreiche Romane.
Wenn man so will, ist das ein Roadmovie. Aber es wird keine „Sentimental Journey“. Erzählt wird die Geschichte von Ruth Rothwax, Tochter zweier Auschwitz-Überlebender, die (wie die Autorin) in Australien aufgewachsen ist und in New York lebt. Sie beschließt mit ihrem 80-jährigen Vater Edek nach Polen zu fahren, um auf die Suche nach seinen jüdischen Wurzeln zu gehen.
Es ist das Polen kurz nach der Wende. Die Städte sind grau, die Straßen kaputt und die Menschen versuchen irgendwie in der neuen Zeit zu überleben. Eigentlich wartet dort niemand auf Ruth und Edek, wenngleich ihre Dollars für Hotelzimmer und Taxifahrten sehr willkommen sind.
Es wird eine Reise in die Traumata der ersten und zweiten Generation Holocaust-Überlebender, in die Sprachlosigkeit und die unausgesprochene, tiefe Liebe zwischen Vater und Tochter.
Edek wird gespielt vom unverwechselbaren britischen Schauspieler, Autor und Komiker Stephen Fry („Gosford Park“). Lena Dunham („Girls“), amerikanische Schauspielerin und Regisseurin, übernahm die Rolle der Tochter Ruth. Inszeniert wurde TREASURE von der deutschen Filmemacherin Julia von Heinz, die bereits 2020 in ihrem Film UND MORGEN DIE GANZE WELT vom Kampf gegen rechtsextreme Gruppen erzählt hat.
War Ihre Reise nach Auschwitz auch so etwas wie Trauerarbeit?
Lily Brett – Autorin:
„Nein, ich bin mir nicht sicher, ob es Trauer war. Ich, wissen Sie, bin nicht religiös… Ich glaube nicht an einen Gott, aber ich glaube immer noch an die Menschen. Und ich denke, dass der Besuch in Auschwitz für mich so war, wie für andere Menschen der Besuch einer Kirche oder Synagoge. Das ist ein großer Widerspruch, wenn man Atheist ist. Ich hatte das Gefühl, dass ich dort war, um all den Verwandten, die dort ermordet wurden, zu zeigen, dass ich da war und dass ich mich um sie sorgte.“
Der Autorin – und dem Film – gelingt es auf wunderbare Weise, Wehmut und Witz zu verbinden, ohne dass sie sich gegenseitig einengen oder behindern.
Der Film heißt – im Unterschied zu Ihrem Roman „Zu viele Männer“ – TREASURE (Schatz)…
Lily Brett – Autorin:
„Ich liebe den Namen wirklich.
Ich habe den Namen auch in Bezug auf die Liebe zwischen dem Vater und der Tochter gesehen. Denn wenn man jemanden liebt, bedeutet das nicht, dass man eine tolle Zeit mit ihm hat. Man hat nicht 24 Stunden am Tag eine großartige Zeit und streitet nie. Aber es gibt eine sehr tiefe Liebe, und das ist in meinem Leben der Schatz.“
Sie haben „Zu viele Männer“ bereits 1999 geschrieben – vor 25 Jahren. Warum gibt es den Film erst jetzt?
Lily Brett – Autorin:
„Nun, es ist Zufall, aber es hat lange gedauert.
Julia von Heinz hat mich zum ersten Mal kontaktiert, ich glaube, das war vor 10 oder 11 Jahren. Es ist nun mal sehr schwer, einen Film zu machen – so viele Leute sind da involviert. Ich meine, wenn ich ein Buch schreibe, setze ich mich allein mit meinen Notizen und einem Computer hin.
Und beim Film hat es eben sehr, sehr lange gedauert. Aber das war es wirklich wert. Bei der Berlinale-Premiere hat das halbe Publikum geweint. Ich konnte die Leute um mich herum weinen hören. Und ich weinte auch.“
Das Buch einer australischen Autorin, in Polen auf Englisch gedreht, von einer deutschen Regisseurin. Wie kam das alles zusammen?
Julia von Heinz – Regisseurin:
„Ursprung war, dass ich Lili-Brett-Fan und -Leserin war. Wie viele hier in Deutschland ihre Fans sind – sie hat ja hier eine große Leserschaft. Ich habe diese Bücher geliebt und gelesen, schon von früh an, Mitte der 90er, als die hier übersetzt wurden. Und ich habe Lily tatsächlich auf Facebook kontaktiert. Ich habe sie gefragt, sind die Filmrechte noch da? Und sie hat mir geantwortet. Und wir waren irgendwann, ein paar Jahre später, in der Lage, diese Filmrechte zu erwerben und ihr Vertrauen zu gewinnen mit unserem Konzept.
Und dann hat es noch einmal viele Jahre gedauert, bis wir es geschafft haben, so einen tollen Cast anzusprechen und für das Projekt zu gewinnen. Eine lange Reise von fast zehn Jahren.“
Ich glaube, dass der Film jetzt genau richtig kommt. Weil sich viele unbelehrbare Ältere und zudem zunehmend auch jüngere Menschen, die kaum noch eine Verbindung zu jener Zeit spüren, mit einem Gedankengut anfreunden, das so etwas wie Auschwitz überhaupt erst möglich gemacht hat.
Lily Brett – Autorin:
„Oh, ich denke, es ist sehr wichtig!
Die Leute glauben, sie wüssten schon alles. Wenn man das Wort Holocaust ausspricht, rollen sie mit den Augen und sagen: „Okay, das war etwas Trauriges.“ Ich benutze dieses Wort nicht mehr. Ich benutze das Wort „Nazizeit“. Die Leute interessieren sich viel mehr für die Nazis als für den Holocaust. Also sage ich einfach „während der Nazizeit“.
Ich denke, dass es jetzt sogar noch wichtiger ist, weil der weltweite Anstieg des Antisemitismus uns einfach erschrecken muss.“
Es geht immer wieder um die Unschärfe von Erinnerung, z.B. bei der Suche nach der Mauer des Ghettos in Lodz, als der scheinbar coole Vater, wohl auch um bittere Erinnerungen zu blocken, vor irgendeiner Mauer schließlich sagt: „Eine Mauer ist eine Mauer“ oder danach vorm Elternhaus „Ein Haus ist eben ein Haus“ – was Ruth später, als sie ihm den alten Mantel des Großvaters zurückkauft, mit „Ein Mantel ist ein Mantel“ ironisiert. Als die beiden geladen werden, sich das „Auschwitzmuseum“ anzusehen, fällt der beachtenswerte Satz: „Auschwitz ist kein Museum, sondern ein Todeslager“. Dieses Abgleiten ins beruhigend Museale ist schon beunruhigend.
Überhaupt fällt auf, welchen Wert Lily Brett auf die Genauigkeit von Sprache legt. Als im Film jemand die Protagonistin fragt, ob sie allein lebe, erklärt diese „Ich bin Single, nicht allein!“
Lily Brett – Autorin:
„Ich denke immer über Wörter nach. In meinem Kopf stelle ich Wörter zusammen und nehme sie wieder auseinander. Meine Tagträume handeln von Wörtern und woraus sie bestehen.“
Julia von Heinz – Regisseurin:
„Wir haben ganz stark versucht, die Tonalität, auch die Leichtigkeit, die Lili Brett ja hat, in den Film zu übernehmen. Es war einer unserer größten Ansprüche, dieser sehr besonderen Tonalität gerecht zu werden.“
Wenn der eigene Romantext zu Bildern wird – wie fühlt sich das an, wenn etwas so Persönliches nun in den Händen anderer Menschen liegt?
Lily Brett – Autorin:
„Nun, es kommt darauf an, in wessen Händen, wer die anderen Leute sind.
Also in den Händen von Julia von Heinz hatte ich keine Probleme. Ich hätte es nie jemandem gegeben, bei dem ich das Gefühl hatte, dass er‘s ins Lächerliche ziehen würde. Aber sie kannte das Buch in- und auswendig, und ich habe ihr einfach voll und ganz vertraut. Sie ist ein wunderbarer Mensch mit einem soliden moralischen Kern.
Ich bin sehr zufrieden mit dem Film und mit den Personen, die sie für die Hauptrollen ausgewählt hat. Ich meine, Lena Dunham (Ruth) und Stephen Fry (Edek) – sie sehen aus wie Vater und Tochter. Ja, sie fühlen sich an wie Vater und Tochter. Ich war also sehr glücklich darüber.“
Irgendwann finden die Beiden das ehemalige Haus der Familie. Die Begegnung mit den polnischen Bewohnern, die ja bereits seit 1940 hier leben, wird zu einem der verstörendsten Momente des Films.
Julia von Heinz – Regisseurin:
„Diese Szene ist wahnsinnig intensiv. Das war sicher auch in der Inszenierung eine Herausforderung. Ich kann ja nicht als Deutsche kommen und mit dem Finger auf Polen zeigen, als wäre dort das große Unrecht geschehen. Sondern das Unrecht wurde von Deutschen verursacht, und zwar ganz ausschließlich.
Und dass es dann solche Geschehnisse natürlich auch gab, weil – so sind Menschen – sie bereichern sich vielleicht, wenn sie können. Trotzdem war es uns wichtig, hier differenziert zu arbeiten. Eine Familie zu zeigen, der wir ihre Armut auch ansehen, ihren Geldmangel.“
Zumal gerade in Nazideutschland die Wohnungen, der in die Konzentrationslager verschleppten Juden, nachdem sich die Bonzen die Wertsachen gesichert hatten, von den Nachbarn schleunigst geplündert wurden.
Bei all den Problemen, mit denen Edek und Ruth auf ihrer Reise konfrontiert werden, erleben sie aber auch Mitgefühl und Hilfsbereitschaft. So werden Taxifahrer Stefan – gespielt vom bekannten polnischen Schauspieler Zbigniew Zamachowski – oder auch der junge Hotelpage Tadeusz (Tomasz Wlosok) zu Begleitern und Freunden – schöne und wichtige Figuren für den Film.
Julia von Heinz – Regisseurin:
„Ja, auf jeden Fall!
Wir haben viel Sorgfalt auch schon im Drehbuch auf die polnischen Nebenfiguren gelegt. Die helfen ja den beiden, zueinander zu finden. Ohne all diese Begleiter, die ihnen auf ihrer Reise begegnen, wären sie nicht so weit gekommen. Edek und Ruth hätten ohne all diese Menschen gar nicht wieder zueinander gefunden.
Zunächst ist da natürlich die örtlichen Reise, die sie unternehmen: Flughafen, Warschau, Lodz, Krakau, Auschwitz und wieder zurück. Die Stationen hat der Roman uns eigentlich vorgegeben.
Die große Reise, die wir beschreiben, ist natürlich die Reise dieser beiden aufeinander zu. Sie haben nun mal eine komplizierte Beziehung zueinander. Und diese Polenreise ermöglicht es ihnen, ein Verständnis füreinander zu entwickeln. Beziehungsweise Ruth versteht ihren Vater und damit vielleicht endlich auch sich selbst.“
TREASURE läuft ab dem 12. September in den Kinos.