Es ist der 5. September 1972 in München. Olympische Spiele.
04:20 Uhr – Acht Mitglieder der palästinensischen Terrorgruppe „Schwarzer September“ klettern in Trainingsanzügen über den Zaun des Olympischen Dorfes. Postbeamte, die die Gruppe beobachten, halten die Männer für Sportler.
04:35 Uhr – Die Palästinenser dringen in das Haus Conollystraße 31 ein und nehmen israelische Sportler und deren Betreuer als Geiseln.
04:52 Uhr – Der Ringertrainer Moshe Weinberg ist das erste Opfer der Terroristen. Er wird bei einem Fluchtversuch erschossen…
Und das brutale Finale:
00:30 Uhr – Das Gefecht endet. Alle neun Geiseln sind tot. Fünf der acht Terroristen sind getötet, die übrigen festgenommen.
Dies war ein Ereignis, das sich in einer anscheinend endlosen Serie (11. September in New York / Konzertsaal Bataclan in Paris / Rucksackbomber in 3 Londoner U-Bahnen / Weihnachtsmarkt in Berlin / 7. Oktober in Israel…) fast schon als „Normalfall“ ins Regelwerk des Alltags einfügt. Die Täter sehen sich als heilige Krieger und sind doch nichts weiter als pervertierte religiöse Fanatiker, die möglichst viele „Ungläubige“ in den Tod reißen wollen. Was, die Vermischung von Religion/Ideologie mit Politik betrifft, kein islamistisches Alleinstellungsmerkmal ist.
Der 5. September also. Dieses verhängnisvolle Ereignis noch heute im allgemeinen Bewusstsein. Steven Spielberg drehte 2005 seinen eindrucksvollen Film MÜNCHEN, der – wie der Regisseur sagte – einfach jede Menge Fragen stellt.
Jetzt dieser neue Film von Regisseur und Autor Tim Fehlbaum (HELL, 2011) und, so viel vorweg, es ist ein überaus sehenswerter Film. Er spielt fast ausschließlich in der Live-Regie, im Münchner Olympia-Studio der amerikanischen Reporter von ABC-Sports. Die werden abrupt und übergangslos zu Berichterstattern in ungewohntem Ressort.
Wie authentisch ist das, was wir da sehen?
Tim Fehlbaum:
„Also ich behaupte: sehr authentisch!
Es ist ja ein Film auch über Technologie, also es ist ein Film über Medien und Kommunikation, über technische Geräte. Entsprechend wichtig waren uns diese ganzen Abläufe, wie Fernsehen damals gemacht wurde – wie lange das dauern konnte, im Vergleich zu heute, bis ein Bild vom Moment der Aufnahme den Weg zum Fernseher gefunden hat. Das alles authentisch zu porträtieren, war uns ein großes Anliegen, weil wir eben dem Publikum von heute auch ein Gefühl für die analoge Technik von damals geben wollten. Aber das Interessante ist, glaube ich, dass, obwohl sich die Technik so rasant verändert hat, die ethischen Fragen immer noch die gleichen sind.“
Wir leben in einem Zeitalter, in dem „LIVE auf Sendung zu gehen“ tatsächlich direkt und überall für jeden möglich ist. Mit Smartphones und Social Media hat sich auch die Nachrichtenwelt in den letzten 20 Jahren massiv verändert. Früher war Liveberichterstattung einigen Fernsehsendern vorbehalten – und auch für diese war es im vor-digitalen Zeitalter eine große Herausforderung. Man brauchte Studios und eine Live-Regie mit anspruchsvollster Technik. Kameras waren schwer, hingen an Kabeln und drehten zum Teil noch auf 16mm Filmmaterial. Live war ein Kraftakt für ein großes Team und so richtig „echtes“ unmittelbares Live, wenn es nicht aus einem TV-Studio kam, war eher Illusion…
Tim Fehlbaum:
„Szenenbildner Julian Wagen und sein Team haben eine enorme Recherche betrieben. Zum Beispiel hatten wir die originalen Baupläne des Studios und die haben sie wirklich fast eins zu eins nachgebaut. Und die ganzen Gerätschaften sind auch authentisch. Das war nicht einfach zu bekommen, zumal es uns wichtig war, dass diese Geräte teilweise noch funktionstüchtig waren. Also wir wollten, dass der Cast auch tatsächlich mit diesen Geräten interagieren kann. Die Idee war, dass wir den Film fast schon wie so eine Dokumentarfilm-Crew selber drehen, als ob wir eine Live-Berichterstattung machen würden.
Es geht darum, wie man über so etwas berichtet. Wir sind ganz streng in der Perspektive dieser Truppe. Das ist eben auch das Besondere an dem Fall von München 1972, dass es eben Sportjournalisten waren, die an diesem Tag den Wechsel machen mussten von der Sportberichterstattung auf Liveberichterstattung über einen Terrorakt. Sie hatten gerade noch über einen Schwimmwettkampf von Marc Spitz berichtet…“
Insofern ist dieser Film auch eine fesselnde Studie über die Veränderungen der Medienwelt. Schon die Benutzung einer Wählscheibe an einem klassischen Telefon dürfte viele Menschen heutzutage überfordern. Aber die Herausforderungen, der sich das TV-Team in SEPTEMBER 5 technisch und moralisch stellen muss, wird alle Kinozuschauer beeindrucken. Ein Film, der unsere Sehgewohnheiten hinterfragt und den Beginn einer neuen Ära der Medienwelt dokumentiert.
Leonie Benesch:
„Unser Film ist eigentlich auch eine Liebeserklärung an die analoge Welt des TV-Machens, des Live-TV-Machens, was ich sehr schön finde. Es erlaubt uns, mit diesen Menschen in einem Raum zu sein, die sich das allererste Mal Fragen stellen müssen, wie: Was können wir denn zeigen und wessen Geschichte ist das? Jeffrey Mason, der von meinem wunderbaren Kollegen John Magaro gespielt wird, hat das tatsächlich auch so beschrieben: Es gab an dem Tag, in diesen 22 Stunden, keinen Raum, sich philosophische Fragen zu stellen. Die einzige Frage, die gestellt wurde, ist – was zeigen wir jetzt, wie bleiben wir On Air?“
Zur Qualität des Films gehört auch, dass er keinen besserwisserischen Beiklang hat und Erklärungen für alles findet. Über die terroristische Aktion, die nun mal einfach unberechenbar ist, wird nicht philosophiert. Heutzutage ist so etwas schnell mit „Meinungen“ verstellt.
Tim Fehlbaum:
„Eine der wichtigsten Quellen war u.a. der Augenzeuge Jeffrey Mason, der damals, während dieses 22-stündigen Marathons der Berichterstattung in dem Kontrollraum war und das miterlebt hat. Und er hat uns gesagt, viele dieser Diskussionen wurden gegen eine tickende Uhr geführt. Die Ereignisse haben sich überschlagen, sie konnten oft nur noch reagieren und entsprechend wollten wir das auch in dem Film darstellen.“
So ein intensives Ensemblestück, das gegen die Zeit forciert vorwärtsgetrieben wird, braucht natürlich vorzügliche Darsteller. Zu den internationalen Darstellern gehören u.a. Peter Sarsgaard, John Magaro und Ben Chaplin. Als Bindeglied in dem Sprachwirrwarr und medialen Chaos beeindruckt Leonie Benesch in der Schlüsselrolle der Dolmetscherin.
Leonie Benesch:
„Ich dachte nach dem Lesen des Drehbuchs, ich will das auf jeden Fall machen, weil: das ist sehr gut geschrieben, es ist sehr genau beobachtet, alle Figuren haben Stimmen. Manchmal, wenn man so viel Text von so vielen unterschiedlichen Männern hat, klingen die irgendwie alle gleich. Aber hier waren das einfach gut entwickelte Figuren und ich dachte sofort, ich will auf jeden Fall mitmachen, denn die Leute brennen für das, was sie tun. Und sie haben hier ihre Hausaufgaben gemacht, was die Recherche angeht. Das klingt immer komisch – aber als Zuschauer hat man wirklich absolut den Eindruck, es ist authentisch und es ist nichts künstlich.“
War dieses kammerspielartige, enge TV-Studio für euch schauspielerisch eine besondere Herausforderung?
Leonie Benesch:
„Nee, ich finde das besonders cool, also gerade, weil das so genau beobachtet war. Weil die Geschichte in sich so schlüssig war, ist das ja etwas, in das man sich dankbar fallen lassen kann. Gerade durch diesen U-Boot-Faktor. Man ist in einem abgeschlossenen Raum und hat sozusagen einen Blick raus auf die Welt – in diesem Fall ist es die Monitorwand. Das ist eine total dankbare, schöne Aufgabe für uns als Schauspiel-Ensemble, damit umzugehen. Dieser Spielplatz, den Julian (Szenenbildner) uns da aufgebaut hat. Es haben ja die meisten Dinge funktioniert. Das ist einerseits natürlich unheimlich, weil man weiß, wenn man einen Knopf drückt, dann geht was an. Andererseits ist es großartig, weil bei den meisten Filmsets ist man Attrappen gewohnt. Wenn aber tatsächlich was passiert, dann fügt sich das natürlich zur Spannung hinzu.
Und wir als Publikum wissen immer nur genau so viel, wie diese Männer in diesem Raum.“
Es ist ja im besten Sinne ein Ensemble-Film.
War das schwierig, das so hinzubekommen, da eine Balance herzustellen?
Tim Fehlbaum:
„Livefernsehen ist eben auch eine Gruppenleistung. Also war uns auch wichtig, dies entsprechend zu porträtieren. Wir haben uns zum Beispiel auch klar dafür entschieden, dass wir keine privaten Geschichten erzählen wollen. Oft hat man ja dann noch irgendwelche Backstories. Das wollten wir alles nicht. Das erschien uns nicht angemessen gegenüber der größeren Thematik. Insofern wollten wir auch keine Figur, die durch ihre private Geschichte heraussticht, sondern dieses Ensemble-Gefühl.“
Natürlich ist das rasante Geschehen immer auch überlagert von der ethischen Problematik so einer von den Verhältnissen oktroyierten Terror-Live-Berichterstattung. Etwas, wozu die Sportreporter kaum Zeit finden, dem sie sich aber dennoch nicht verweigern: „Für wen machen wir das?“.
Die Sorge, dass die Terroristen dies auch als Information und Publikation für ihre Aktionen nutzen könnten und Schlagzeilen und Titelbilder bekommen. Und dann der Konkurrenzkampf im Großen, das „Informations-Business“, das am Ende nur die Einschaltquoten zählen. Sensible Detailfragen werden – und das ist noch ein Vorzug des Films – vor allem an den Zuschauer delegiert.
September 5 ist ein mutiger und ungewöhnlicher Thriller, der anders, fast dokumentarisch und durchweg spannend erzählt.