Ein Bergfilm…
Dieser Film mit dem selbstbewussten Titel EIN GANZES LEBEN spielt in den Alpen, und es leuchtet ein, dass die grandiosen Panoramen keine Bilder fürs Handy sind, sondern die große Kino-Leinwand fordern. Vor allem aber erzählt der Film vom Leben – man bekommt das Gefühl, dass dort die sogenannten „einfachen“ Menschen seit Jahrhunderten genauso gelebt haben, wie die Bergler des Films. Und plötzlich, im 20. Jahrhundert, verändert sich hektisch und unaufhaltsam alles (Farben, Fahrzeuge, Tourismus), und wie wir inzwischen wissen: durchaus bedenklich…
Ein ganzes Leben verbringt der Waisenjunge Andreas in den Bergen. Er wird um 1900 auf dem Hof eines harten Bergbauern untergebracht, muss die schwersten Arbeiten verrichten und mit erstaunlicher Duldsamkeit die Wutausbrüche des Bauern erdulden. Mit dem Wandel der Zeiten lernt auch Andreas die Maßgaben des Fortschritts kennen, arbeitet fortan beim Bau der Seilbahn (übrigens spektakulär gefilmt), verliebt sich und entkommt schließlich auch den Nazis nicht, die ihn für ihren Krieg gebrauchen können. Er wird in Russland gefangengenommen und erlebt schließlich die Veränderungen seines Tals im Nachkriegsdeutschland. Ein ganzes Leben…
Souverän unterscheidet sich Hans Steinbichlers Arbeit vom tradierten Bergfilm-Genre. Sowohl von den treuherzig-biederen Bergbauern-Heimatfilmen der 1950er, vor allem aber vom völkischen Sound der Trenker/Riefenstahl-Bergfilme, die das Genre, wie es schien unwiderruflich, in Verruf gebracht hatten.
Frage an den Regisseur: Gibt es für Sie einen persönlichen Bezug zum Sujet?
Hans Steinbichler:
„EIN GANZES LEBEN ist tatsächlich auch was sehr Persönliches für mich. Ich bin in den Alpen aufgewachsen, ich bin in der Schweiz geboren und dann habe ich in Bayern gelebt. Mein Vater war Alpin-Journalist und er hat über vier Jahrzehnte dort extremen Umweltschutz betrieben, also versucht, Naturschutzgebiete zu gründen. Das heißt, meine Kindheit, meine Jugend war komplett von diesem „Fortschritt“ und dem Kampf dagegen geprägt. Und es war so faszinierend für mich, ein Projekt machen zu können, wo ich einen Bogen ziehen kann. Und zwar von einer Figur, die sich interessanterweise kaum entwickelt, was ich ganz besonders an Andreas Egger finde. Und dann aber parallel erleben wir, wie die Moderne Einzug in den Alpen hält. Und wir sehen, wie in einem Brennglas, das, was eigentlich in 80 Jahren passiert ist und wo wir heute stehen.
Andreas Egger ist ja eine Figur, die keine Möglichkeiten hat, sondern die nur immer in die Dinge reingeworfen wird. Und er muss sich mit dem bescheiden, was ihm übriggelassen wird. Er darf schon mal nicht am Tisch sitzen mit der Familie, in die er hineingestoßen wird, und er wird stehts außen bleiben. Dennoch schafft Andreas Egger es, damit zufrieden zu sein. Und das fasziniert mich so.“
Der Protagonist Andreas ist eine durchaus anspruchsvolle Rolle, die vom noch relativ unbekannten österreichischen Schauspieler Stefan Gorski („Contra“, 2020) vorzüglich realisiert wird.
Stefan Gorski:
„Dass er, Andreas, es trotz aller Widrigkeiten schafft, keinen Gram in sich zu entwickeln und keine Boshaftigkeit, dass er es schafft, ohne Kompensation sozusagen, wie Drogen, Alkohol oder sonstiges, durchs Leben zu gehen und sich ein gutes Herz zu bewahren, fand ich so wahnsinnig toll. Und dass er trotz dieser Stärke und dieser äußeren Physiognomie, die man als grob, oder doch wuchtig beschreiben kann, eine so sensible und zarte Seele hat, das fand ich zutiefst berührend und das hat mich so sehr interessiert, diesen Mann zu porträtieren.“
Andreas hat wirklich harte Arbeit zu leisten. Das kann man im Film ja nicht nur simulieren. Musste das konkret erlernt und trainiert werden?
Stefan Gorski:
„Ich hatte eine sehr intensive Vorbereitung, auch eine recht lange, und ich habe alles quasi selbst gemacht, wenn man so will, und auch wirklich angepackt. Ich war monatelang auf dem Land bei Bauernfamilien, habe im Stall ausgeholfen, jeden Tag um 3:00 nachts und dann noch mal am Nachmittag. Hab zwischendurch Holzarbeiten gemacht. Ich habe gelernt, Holz zu fällen, mit Holz umzugehen. Ich habe mit der Sense mähen gelernt – auf 2000 Metern Höhe. Man hatte ja früher extrem harte, lange Wege vom Berg, dieses gemähte Heu runter ins Tal zu bringen, in die Ställe. Da haben die Leute teilweise solche Heuballen getragen, die 180 Kilo wogen. Ich habe jetzt keine 180 Kilo Ballen, aber so 110 Kilo Ballen tragen müssen. Also mir nicht den Rücken zu brechen, das war das Schwierige. Und was sonst noch körperlich besonders schwierig war, war zum Beispiel diese Lawinenszene, für die ich mich speziell vorbereitet habe.
Was noch? Ich bin 20, 30 Meter über dem Boden gehangen in so einer Schaukel, um da Löcher für den Seilbahnbau in den Felsen zu bohren. Das war so eine Schaukel, an Hanf-Seilen befestigt und ich hänge da so eine Stunde ganz alleine über dem Boden und mache meine Bauarbeiten. Plötzlich aus dem Nichts reißt dieses Seil, und ich falle 2, 3 Meter runter und habe einen wahnsinnigen Schock.“
Der Roman von Robert Seethaler war ein Bestseller. Wie habt ihr euch den filmisch angeeignet?
Hans Steinbichler:
„Wir standen vor der Problematik, dass wir einen Roman hatten, der sich EIN GANZES LEBEN nennt und nur 150 Seiten hat. Das ist absolut erstaunlich. Die Erklärung dafür ist einfach: dass in diesem Roman die Verknappung von Seethaler zum Tragen kommt. Und jetzt mussten wir für den Film eine Dramaturgie erzählen. Also haben wir Folgendes gemacht: Wir haben die Briefe, die dieser Egger an seine Frau schreibt, die sowohl Erinnerungen sind als auch Liebesbriefe, als einen Bogen genommen, um eine Klammer zu schaffen. Und in dieser Klammer haben wir dann eben versucht, die zentralen Dinge dieses Romans und seines Lebens zu verarbeiten. Wir meinen, dass wir bis auf ganz wenig Sachen eigentlich alles aus dem Roman erzählen. Und das ist so wichtig, weil ich dachte, das ist ein Roman, den die Leute so sehr in sich haben, dass sie eine hohe Wiedererkennbarkeit brauchen.“
Die Liebesgeschichte zwischen Andreas und Marie (Julia Franz Richter) – ihr habt im Film da einen Kuss, den ich zu den schönsten Filmküssen zählen möchte…
Hans Steinbichler:
„Das ist aber ein tolles Kompliment.
Die Magie beim Film entsteht oft durch eine gewisse Technik. Und zwar durch eine Technik, auf die sich alle einigen, nämlich Schauspieler und Regie und Kamera. Dieser Filmkuss war nicht deswegen so stark, weil sich beispielsweise Stefan und Julia ineinander verliebt hätten. Das war überhaupt nicht der Fall, sondern was war, ist, dass sie in einer Landschaft standen, nach einem absolut reinigenden Gewitter auf 2000 Metern Höhe. Und da war so eine Unmittelbarkeit, als dieser Moment kam, wo wir drehen konnten. Wir wussten, wie entscheidend dieser Filmkuss ist, hatten alles sehr genau geplant und dann hat einfach dieser Moment gestimmt.“
Stefan Gorski:
„Julia und ich, wir kennen uns schon seit einiger Zeit. Wir haben nicht zusammen studiert, aber wir kannten uns durch diverse Theatertreffen oder auch durch Freundeskreise. Das heißt, wir hatten, glaube ich, schon eine Art von Gefühl füreinander und eine Entwicklung, ein Gespür und ein Vertrauen.
Genau. Ja, schön, dass Sie das sagen. Das freut mich sehr. Ich freue michauch, diese Kussszene zu sehen.
Was mich besonders interessiert hat, ist eben, dass Andreas Egger vorher noch nie einen Flirt hatte. Er weiß ja nicht, wie Flirten funktioniert. Und dieser Kuss, der da passiert, ist ja sein erstes Mal. Und diese Überforderung und sich dann quasi in die Hände von Julia oder Marie nehmen zu lassen, das finde ich auch schön.“
Es ist tatsächlich so: die Landschaft ist in diesem Film nie lediglich ein pittoresker Hintergrund, die Bilder des Kameramannes Armin Franzen sind stets auch von dramaturgischem Belang.
Hans Steinbichler:
„Der Film, wie wir ihn alle sehen, jetzt im Kino, ist in jeder Einstellung von vornherein geplant gewesen. Mein Kameramann hat mit mir über Monate die Motive befahren. Und wir haben mit einer App, die exakt unsere Objektive nachbildet, jede Einstellung im Vorhinein fotografiert und in eine komplette Shotlist gebracht.
Und das haben wir aus zwei Gründen gemacht: zum einen, weil wir jedes Bild wie ein Gemälde haben wollten. Es musste immer stimmen, und zwar komplett, wie wir es gesehen haben. Wir standen dann da, Armin hatte sein iPhone in der Hand und wir haben wirklich die Kamera genauso hin gerutscht, wie wir es auf unseren Fotos hatten. Das klingt pedantisch, aber es hat uns die Arbeit vor Ort erst ermöglicht, weil wir ja nur bestimmte Zeitfenster hatten. Es war alles genau geplant!“
Dann gibt es ja neben dem Stefan-Gorski-Andreas noch zwei weitere Andreas-Darsteller. Und zwar Ivan Gustafink als Achtjährigen und natürlich August Zirner als Andreas in seiner letzten Lebensphase und Erzähler des Films.
Gab es da irgendeine Zusammenarbeit oder seid ihr euch gar nicht begegnet?
Stefan Gorski:
„Doch. Also ich muss sagen, mit Ivan, dem Jungen nicht wirklich, aber mit August Zirner schon ein bisschen mehr. Wir haben uns dort getroffen und haben besprochen, was und wie wir die Figur sehen, wie die Figur wohl atmet und gewisse Äußerlichkeiten. Wir haben Andreas Hinken gemeinsam geübt. Mit August hatte ich einen tollen Kollegen, mit dem ich aber leider nur wenig zu tun hatte, weil wir uns eigentlich ja nie begegnen im Film. Außer diese eine Szene, wo eben der junge zum älteren Egger transferiert. Das ist auch eine meiner Lieblingsszenen und war ein toller Drehtag.“
Andreas Eggers Leben ist hart, oft einsam und voller Entbehrungen. Trotzdem schaut man diesem würdevollen Menschen staunend zu, wie er die Umbrüche eines Jahrhunderts durchlebt.
Hans Steinbichler:
„Ich glaube, es könnte ein Bild für unsere Zeit sein, sich mal umzuschauen, wie wir alle leben und zu sagen: Erstens haben wir ein Leben geschenkt bekommen, zweitens haben wir ein großes Glück, wo wir hier in dieser westlichen Welt leben. Und zum Dritten sollten wir unbedingt darüber nachdenken, ob wir den dauernden Wettbewerb mit uns und gegen die anderen fortführen wollen.
Andreas Egger ist für mich eine Figur, die das einfach zeigt, wie es gehen könnte.“
EIN GANZES LEBEN startet am 9. November in den Kinos.