Es ist eine erfreuliche Entwicklung im deutschen Kino anzumerken – die Tendenz zu banalen Komödien oder simplen Beziehungsstücken im netten Mittelklassemilieu hat abgenommen. Dafür haben in letzter Zeit Filme mit sogenanntem „Arthaus“-Status durchaus Publikum gewonnen. Hinzu kommt, dass diese anspruchsvolleren Filme zumeist auch unterhaltsam sind.
Jetzt also wieder ein Film in dieser Kategorie:
ALLE DIE DU BIST – Buch und Regie: Michael Fetter Nathansky (SAG DU ES MIR, 2019), in der Hauptrolle eine beeindruckende Aenne Schwarz (ALLES IST GUT, 2018). Sie spielt Nadine, eine junge alleinerziehende Mutter, die es auf Jobsuche vom Brandenburger Land in die Gegend um Köln verschlagen hat, wo sie als Fabrikarbeiterin in der Kohleindustrie arbeitet. Die Arbeitsplätze sind vom Strukturwandel bedroht. Aber Nadine weiß sich zu wehren, was ihre Kollegen nicht immer mögen, aber durchaus zu schätzen wissen…
Hierzulande sind wirkungsvolle Filme aus dem Arbeitermilieu nicht eben häufig und mir gefällt besonders, dass die Arbeitswelt nicht irgendwie behauptet wird, sondern dass Leute und Situationen immer glaubwürdig erzählt werden.
Aenne Schwarz:
„Also, wir sind ja an einen wirklichen Ort gegangen. Diese Werkstatt, die gibt es; in der arbeiten noch wirklich Leute. Dieser Ort existiert, da ist das Kraftwerk direkt dahinter. Wir haben mit den Arbeitern dort gesprochen, und die haben uns das gezeigt. Wir haben auch gelernt, mit den Maschinen umzugehen.
Und es ging natürlich nicht darum, dass man jetzt eine stilisierte Welt darstellt. Aber es geht aber auch nicht darum, und das finde ich interessant, jetzt authentisch, im Sinne eines absoluten Sozialdramas zu sein. Das fände ich anmaßend. Aber die Sprache und das, wie wir es aufgenommen haben, ist vielleicht ganz nah dran.“
Michael Fetter Nathansky:
„Wir haben den Film in Bergheim gedreht – das ist in der Umgebung von Köln. Schon beim Drehbuchschreiben bin ich da sehr oft hingefahren. Einfach, weil ich wissen wollte, wie sehen diese Orte tatsächlich aus? Also, ganz konkret, ich muss beim Schreiben irgendwie schon ein Gefühl dafür haben, wie so ein Raum aussieht, damit ich auch irgendwie meine Behauptungen, die ich da alle reinschreibe, selber glaube.“
Den Alltag der Arbeitswelt bricht der Film mit magischem Realismus. Nadine verliebt sich in Paul. Und diese Beziehung birgt für den Zuschauer Erstaunliches:
Je nach Situation und Stimmungslage erscheint er ihr als immer wieder andere Person:
Vom vorlauten Kind über einen albernden Vater bis zu einem pubertären Besserwisser. Von einem scheuen Rind über eine mütterliche Freundin bis zurück zum zärtlichen Liebhaber.
Gespielt wird dieser Paul von Carlo Ljubek – und zudem in Nadines Imaginationen von Youness Aabbaz, Sammy Schrein, Jule Nebel-Linnenbaum…
Die Idee, diese Sicht auf Paul auch körperlich zu ändern, ist für den Zuschauer zunächst vielleicht etwas irritierend, aber immer interessant. Hattet Ihr da nicht ein bisschen Respekt vor einem möglichen Risiko?
Michael Fetter Nathansky:
„Eigentlich nicht – also wofür macht man denn Filme? Man will ja im Kino gucken, was geht alles, was ist alles möglich? Es war ja unsere Aufgabe, den Zuschauer zu überfordern.
Gleichzeitig ist die Idee letztendlich gar nicht so absurd, weil ich glaube, wir nehmen uns alle in unterschiedlichen Gestalten wahr. Und wir konnten alles immer irgendwie über Nadine, ich weiß nicht, ob erklären, aber sozusagen zusammenführen. Das hat sehr geholfen.“
Dieser Wechsel der Persönlichkeit, die Nadine in Paul beobachtet, wie erlebt man das als Schauspieler? Wie erarbeitet man sich das?
Aenne Schwarz:
„Das macht man zusammen mit den anderen. Eigentlich ist das sehr dankbar und ganz toll. Wenn man nur einen Partner hätte, würde man ja auch versuchen mit dem ganz verschiedenen Formen der Liebe und des Seins durchzuspielen…
Wer bist du, und wer bin ich? Man ist ja immer ein anderer, und der andere bleibt immer ein Fremder. So geschieht es eigentlich fast automatisch, dass auch Nadine immer eine andere wird. Was natürlich eine tolle Aufgabe zum Spielen ist.“
Dem Film gelingt es mit einer einfallsreich durchkomponierten Dramaturgie und Bildgestaltung Alltägliches so zu präsentieren, dass man erneut aufmerksam wird, staunt und manchmal auch heftig gefordert ist. Assoziative Zeitsprünge, eine oft sehr intime Kamera, für die Darsteller viele handfeste Aktionen und immer wieder Nadines Bedürfnis nach Umarmungen.
Michael Fetter Nathansky:
„Für mich ist Nadine eine Frau, die ihren Mann wieder lieben will.
Die ihn mal sehr geliebt hat und diese Liebe wieder sucht und alles dafür tut. Also, sie versucht, alte Gefühle irgendwie wieder zu erwecken. Und da hat es, obwohl sie an dieser Liebe zweifelt, eine unglaubliche Stärke und Schönheit, wie sie für diese Liebe kämpft. Und dann ist Nadine natürlich noch ganz viel mehr, aber ich glaube, man kann sie im Film noch schöner entdecken als in meinen Worten.“
Aenne Schwarz:
„Wer sie ist, das weiß ich nicht. Ich weiß gar nicht, ob sie das selber weiß…
Aber – was so schön an Nadine ist, wie man sie kennenlernt! Sie ist einerseits scheu, würde ich sagen, sie spricht nicht viel. Man lernt sie kennen über das, was sie tut, und sie tut viel. Und sie hat Geschwindigkeit, das mag ich an ihr. Ich habe immer das Gefühl, da gibt es einen inneren Ballon, der ist ziemlich prall, da ist ganz schön viel drin, und das übersetzt sich nach außen in Tempo, in Handlung, in Beziehung. Man lernt sie kennen in dem, was sie mit den anderen tut, wie sie liebt, wie sie kämpft, wie sie versucht, alles zusammenzuhalten, was ihr entgleitet oder davonfliegt.
Was wissen wir von Nadine? Sie kommt von weit her, sie hat ein Kind, sie ist offensichtlich allein, sie scheint aus einfachen Verhältnissen zu sein, hat nicht viel Geld, sie kann sich nicht mal ein richtiges Zimmer leisten oder so. Das wissen wir. Und dann erleben wir sie mit Paul, wie sich die Welt öffnet für sie. Und auch wie sie sich wieder schließt, und wie sie dafür kämpft, dass sie offen bleibt.“
Nadine liebt Paul absolut, mit aller Kraft. Doch existenzielles Chaos und Ungewissheiten belasten die Beziehung. Sie stemmt sich gegen diese Entfremdung zu ihrem Mann, der selbst liebevoll und aufrichtig aber auch überfordert auf Situationen reagiert.
Wie war die Zusammenarbeit mit Carlo Ljubek?
Aenne Schwarz:
„Also, etwas vom Schönsten, was ich erleben durfte bis jetzt. Man merkt dann einfach, dass man miteinander richtig was gespielt oder erlebt hat.
Teilweise sind wir einfach so reingefallen, und es hat sich angefühlt, als würden wir schon 20 Jahre miteinander spielen und uns kennen. Auch die Körper. Da war ganz großes Vertrauen und große Wahrhaftigkeit in diesem Spiel zwischen uns.“
Wir in Deutschland neigen ja dazu, alles in Schubladen zu stecken. Welche Genre-Schublade wäre denn die Richtige für Ihren Film?
Michael Fetter Nathansky:
„Also ich kann sagen, es ist ein Liebesfilm. Da bin ich auf jeden Fall dabei.
Es geht um Liebe. Und ich glaube, bei vielen Liebesfilmen geht es gar nicht so darum, wie wir lieben oder wieso wir lieben. Vielmehr: kriegen wir den einen oder die eine? Aber hier geht es darum, wie, wieso oder was wir eigentlich lieben. Und kann Liebe vielleicht auch verschwinden? Und deswegen ist es ein Liebesfilm im Sinne von: Was ist eigentlich Liebe?“
ALLE DIE DU BIST startet am 30. Mai in den Kinos.