Der Hauptheld Chan Lok-kwan (Raymond Lam) wuchs als Waisenkind in Vietnam auf und flüchtet in den 1980er Jahren, wie viele andere auch, nach Hongkong. Verzweifelt versucht er hier an einen Pass zu kommen und lässt sich auf Geschäfte mit den Triaden ein, bei denen er sich hoch verschuldet. Auf der Flucht vor den Gangstern gerät er in die mysteriöse Walled City.
Kowloon Walled City war ein Stadtteil in Hongkong und wird zum zentralen Handlungsort des Films. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieg fanden hier viele chinesische Flüchtlinge Wohnungen, und die Bevölkerung begann dramatisch anzuwachsen. Die Walled City wurde unkontrolliert mit bis zu 14-stöckigen Hochhäusern dicht bebaut, was wie ein ins Unvorstellbare übereinandergestapeltes Elendsviertel wirkte und umgangssprachlich „Stadt der Finsternis“ genannt wurde. Es gab Geschäfte, Schulen, kleine Handwerksbetriebe und es war das Zentrum von Drogenhandel und Prostitution. Bei 1,3 Millionen Einwohnern je Quadratkilometer wurde dieses Großstadt-Monster zum Ort mit der höchsten Bevölkerungsdichte der Welt. Die gesamte Walled City wurde Anfang der 1990er Jahre abgerissen.
Dies ist ein Film, der auf mehreren Ebenen funktioniert. Da ist zunächst einmal die ostasiatische Martial-Arts-Tradition der 1970er und 80er Jahre. Sogenannte Kung-Fu-Filme – vor allem aus Hongkong – die aber auch das westliche Kino eroberten. So wurde z.B. Bruce Lee zu einem Superstar. Und 2000 entstand der großartige, mit mehreren Oscars preisgekrönte Film TIGER & DRAGON des taiwanesischen Regisseurs Ang Lee.
Martial-Arts – „Kriegskunst“ also (benannt nach dem Kriegsgott Mars), die vor allem von staunenswert perfekter Choreografie bestimmt wird.
Der zweite, nicht weniger wichtige Aspekt von CITY OF DARKNESS aber ist seine soziale Substanz. Chan Lok-kwan findet hier Zusammenhalt, Menschlichkeit und Solidarität während die Triaden versuchen die Walled City zu kontrollieren. Speziell „King“ hat es auf ihn abgesehen. Er strebt nach absoluter Macht über die Gangster-Clans. Gespielt wird er von Philip Ng, einem Martial-Arts-Superstars und Kampfkunst-Choreographen. Er spielte übrigens Bruce Lee in der Filmbiographie BIRTH OF THE DRAGON (2016).
Philip Ng:
„Die grundlegende Botschaft lautet, dass Gemeinschaft wichtig ist. Auch wenn der Ort, an dem man lebt, fast unerträglich ist, wie Walled City. Eine Gemeinschaft, die diesen Ort nicht nur erträglicher macht, sondern in der die Menschen ein Zuhause finden können. Chan Lok-kwan flieht von einem Ort an einen anderen. Er ist ein Fremder in einem fremden Land und hier findet er Menschen, die sich um ihn kümmern.
Und dann gibt es obendrein noch verrückte Kung-Fu-Action. Ich denke, es war ein Verdienst des Regisseurs Soi Cheang, dass er diese beiden Dinge unter einen Hut gebracht hat und es nicht wie zwei getrennte Filme aussehen ließ.“
Das Szenenbild für diesen Film ist beängstigend eindrucksvoll. Diese unvorstellbare Enge der dichtest besiedelten Struktur weltweit. Dieses Gewirr von defekten Kabeln und Leitungen. Im ewigen Halbdunkel ruhelose Werkstätten, Kneipen, Wohnungen und Geschäfte mit obskuren Gängen ins „Nirgendwo“.
Wie realistisch ist die Walled City im Film?
Philip Ng:
„Ich war selbst nie dort, aber was die Ästhetik oder das Aussehen angeht –unser Produzent hat dort gelebt und er sagte, es sei sehr ähnlich zu dem, was er aus seiner Kindheit in Erinnerung hat. Visuell gesehen ist unser Film der tatsächlichen Stadt sehr ähnlich. Und die Walled City hat mit ihrer Mythologie und Realität die Populärkultur auf der ganzen Welt beeinflusst. Die Batman-Filme von Christopher Nolan – die Art und Weise, wie sie Gotham City, gestaltet haben. Und dann der Cyberpunk. Viele Cyberpunk-Werke sind von der Walled City beeinflusst, weil es ein einzigartiger Ort war, wo die Menschen so eng miteinander gelebt haben und wo unterschiedlichste Dinge passieren konnten, weil es keine wirkliche Rechtsprechung gab. Schon die Erzählungen von diesem mystischen Ort, der tatsächlich existiert hat, haben viel Kreativität freigesetzt.“
Philip Ngs King ist die rechte Hand von Verbrecherboss Mr. Big. Mit seinem extrovertierten Auftreten und seiner brutalen Art wird er zum gefährlichsten Antagonisten. Nachdem er sämtliche Kontrahenten aus dem Weg geräumt hat, liefert sich King einen epischen Endkampf durch die Etagen und Fluchten von Walled City. Wenn irgendein Film für die Schauspieler körperlich herausfordernd ist, dann wahrscheinlich dieser. Die Arbeit an so einem Film ist definitiv eine schmerzhafte Erfahrung – im wahrsten Sinne des Wortes.
Philip Ng:
„Meine Vorbereitung war sehr ähnlich wie bei jedem Kung-Fu-Film oder jedem Martial-Arts-Film, den ich mache. Es gibt ein gewisses Maß an Körperlichkeit, das ich erreichen muss. Das hat viel mit Ernährung und Training zu tun und damit, eine bestimmte körperliche Verfassung während der gesamten Drehzeit aufrecht-zu erhalten. Was die Choreografie und das Action-Design angeht, war ich dieses Mal nur der Schauspieler. Der eigentliche Action-Regisseur und Choreograph war Kenji Tanigaki, ein guter Freund von mir. Vor der Produktion gab es ein einmonatiges Trainingslager für alle Schauspieler. Aber in dieser Zeit ging es hauptsächlich um die Choreografie für die anderen Schauspieler, denn außer mir, Raymond Lam (Chan)und natürlich Mr. Sammo Hung (Mr. Big) hatten nur wenige der anderen Schauspieler so viel Erfahrung mit dem Drehen von Kung-Fu- oder Kampfkunstfilmen.
Ein Großteil des Trainings konzentrierte sich also auf die Festlegung der Bewegungen, und für mich ging es mehr um das Experimentieren und darum, in welche Richtung meine Figur gehen sollte. Denn King war so einzigartig und präsent. Wir haben mit verschiedenen Choreografien experimentiert und überlegt, welche Bewegungen zu dieser Figur passen würden und wie sie gleichzeitig unverwechselbar und kraftvoll wirken könnte.“
Es muss eine echte Herausforderung gewesen sein, die Sonnenbrille bei all den Kampfszenen aufzubehalten. Sie bleibt immer sauber, fällt nicht herunter und geht nicht kaputt – das ist Kinomagie!
Philip Ng:
„Sie ist wirklich nie kaputt gegangen. Selbst, wenn die Gläser am Ende des Films gesprungen sind, haben sie eigentlich nur etwas auf das Glas geklebt. In Wirklichkeit ist sie nie zerbrochen. Das war ziemlich erstaunlich!
Ich erinnere mich, dass ich den Regisseur fragte: „Okay cool, Ich habe eine Sonnenbrille. Also nehme ich sie ab, wenn ich kämpfe, richtig?“ Er sagte: „Nein, du behältst sie die ganze Zeit auf!“. Und dann war ich neugierig, wie er das begründen würde. Und er erklärte mir, dass es wie bei Batman ist: „Batman ohne seine Maske, das ist einfach nur Bruce Wayne. Dies ist also deine Batman-Maske, dein Image – das ist die Figur.“ Und außerdem ist er ein sehr angeberischer Typ. Man sieht, dass er all diese schönen Klamotten trägt, oder das, was er für schöne Klamotten hält. Er will sich selbst zur Schau stellen – zeigen, wie großartig er ist. Das ist Teil seiner Persönlichkeit.
Ein einziges Mal hatte ich die Gelegenheit, die Brille abzusetzen. Und zwar, als King den Big Boss tötet – Sammo Hungs Figur. Ich sagte, jetzt möchte meine Brille abnehmen, weil in dieser Szene nicht gesprochen wird. Denn wenn man die Augen frei hat, ist es einfacher seine Gefühle zu zeigen.“
Ist das Martial-Arts-Kino so etwas die Fortsetzung des Zirkus‘ mit anderen Mitteln?
Philip Ng:
„Ich denke, es ist einfach eine andere Ebene der Unterhaltung. Es ist jene Art von Unterhaltung, bei der es nicht nur um das Kino geht, nicht nur um filmische Techniken, Erzähltechniken, sondern vor Allem um Körperlichkeit und darum, wie man diese Körperlichkeit visuell einfängt. Und vielleicht ist das in gewisser Weise, wie im Zirkus. Ich denke, es gibt bestimmte physische Attribute, die man mit dem Zirkus gleichsetzen kann, wie die Leute auf dem fliegenden Trapez, diese Körperlichkeit – Dinge zu sehen, die selten sind.
Aber für das Kino ist es wichtig, dass diese Körperlichkeit, diese Kampfszenen mit den anderen dramatischen Szenen übereinstimmen und ein Ganzes ergeben, nicht zwei separate Filme. Wie du gesagt hast, hat der Regisseur die verrückte Kung-Fu-Action mit einem warmherzigen Film über die Kraft der Gemeinschaft verbunden.“
CITY OF DARKNESS wurde in Cannes gefeiert und ist mittlerweile der erfolgreichste Hong-Kong-Film aller Zeiten. Für seine Heimat geht er jetzt ins Oscar-Rennen.
Philip Ng:
„Als wir mit den Dreharbeiten begannen, wussten wir, dass wir etwas Besonderes haben.
Als ein Filmemacher, der schon eine Weile in diesem Geschäft ist, kenne ich viele Faktoren, die mit dem Erfolg eines Films zu tun haben. Man kann etwas drehen, von dem man glaubt, dass es wunderbar ist, aber nicht viele Leute werden es sich ansehen. Es ist tatsächlich schwer, das vorauszusagen. Aber wir sind in diesem Fall reich beschenkt worden und natürlich glücklich darüber.
Hoffentlich kann also CITY OF DARKNESS die Hong-Kong-Filmindustrie weiter beleben.“
CITY OF DARKNESS startet am 28. November in den Kinos.