So nach und nach kommen auch die Wettbewerbsfilme der letzten Berlinale in unsere Kinos. Das sind nicht immer preisgekrönte cineastische Sonderfälle, aber oft überraschende Kinostücke, die sich anzusehen unbedingt lohnt. Übrigens kassiert dieser Film zurzeit auf zahlreichen internationalen Festivals Auszeichnungen als Debütfilm, Preise für Musik, Darsteller und Regie, dazu Jury- und Kritikerpreise.
GLORIA! ist der Debütfilm der Regisseurin, Autorin, Schauspielerin, Komponistin und Sängerin Margherita Vicario, deren Film den zahlreichen Musikerinnen gewidmet ist, die nie eine Chance hatten, öffentlich anerkannt zu werden.
Die Mädchen, Insassen eines Waiseninstituts in Venedig um 1800, haben dort für die Kirchenmusik zu sorgen, und ein neuartiges Pianoforte animiert sie zu aufsässigem Musizieren.
Gibt es für Ihren Film einen historischen Hintergrund?
Margherita Vicario:
„Ganz genau, er bezieht sich wirklich auf Institute, die es damals gab, und eines der berühmtesten war das von Vivaldi geleitete. Es waren religiöse, aber öffentliche Einrichtungen, die von der venezianischen Staatskasse für Waisen oder unterprivilegierte Frauen, verlassene Frauen etc. geführt wurden. Dort wurden sie in Musik ausgebildet, um in der Kirche zur Ehre Gottes zu spielen. Es war auch eine Quelle ihres Lebensunterhalts. Also basiert es absolut auf Realität, obwohl dies eine fiktive Geschichte ist.“
Die Regisseurin lässt sich mit typisch italienischer Musikalität mitreißen und mischt in die seriöse Kirchenmusik der Mädchen, die der alte überforderte Kapellmeister Perlina für den Papstbesuch nicht bewältigt, locker modernere Passagen, was zwar einige Kritiker während der Berlinale wiederum irritierte, dem Film aber das richtige Tempo gibt – und eben genau diese italienische Musikalität…
Margherita Vicario:
„Nun, das ist wirklich das Thema des Films. Wenn der Ausgangspunkt realistisch ist, wird der surrealere, kreativere Teil an die Musik delegiert. Es ist schließlich ein Film über die Kreativität dieser Frauen, die an diesen Orten eingesperrt waren, und von denen wir nie erfahren würden. Sie waren großartige Künstlerinnen, aber wir werden nie wirklich wissen, was sie gespielt, was sie komponiert haben, was ihr tiefer persönlicher Ausdruck war. Ich habe da angesetzt, aber dann ist es ein Spiel, und zwar indem ich sie auf diesem neuartigen Klavier improvisieren ließ.
Es geht um Kreativität, und Kreativität ist im Laufe der Jahrhunderte ziemlich ähnlich. Dann gibt es da noch die Gesellschaft und den Kunstkanon – und die ändern sich natürlich!“
Schon Vivaldis renommiertes Mädchenorchester des Waisenhauses „Ospedale della Pietà“ interpretierte im 17. Jahrhundert virtuos auch die kompliziertesten Arrangements des Meisters.
Obwohl zu dieser Zeit Frauen die Musik eigentlich verboten war und hohe Stimmen vornehmlich von Kastraten gesungen wurden, gibt es diese am Ende anonymen Musikantinnen. Venedig als lebensvolle Hafenstadt hatte ohnehin einen Überschuss an unehelichen, ausgesetzten und sonstwie ungewollten Kindern, die hier gemeinsam mit Vivaldi zumindest ihre Kreativität entdecken konnten. Und darum geht es auch in diesem Film.
Es ist also ein allgemeines historisches Problem: Frauen und die Kunst! Speziell in der Musik, wenn man beispielsweise bedenkt, dass bei den Wiener Philharmonikern noch bis 1997 keine Frauen mitspielen durften.
Margherita Vicario:
„Es ist offensichtlich, dass es einige sehr große Künstlerinnen gab, und vielleicht waren sie sogar zu ihrer Zeit, in ihrer Epoche bekannt, aber nur sehr wenige haben den Sprung in die heutige Zeit geschafft. Zudem waren die meisten dieser Künstlerinnen privilegiert, denn nur als Tochter, Schwester oder Ehefrau eines Komponisten, Malers, Bildhauers oder Dichters konnte man so leben, eben weil man durch den familiären Kontext geschützt war. Anderenfalls wurde die Freiheit der Frauen oft darauf reduziert, dass sie eigentlich von der Freiheit in der Gesellschaft ausgeschlossen waren. Vielleicht mussten die großen Kurtisanen, die auch große Künstlerinnen waren, um Künstler sein zu können, fast, wie soll man sagen, ihre sexuelle Freiheit opfern. Viele Jahrhunderte lang entsprach das Künstlerdasein, sofern man nicht durch die Familie geschützt war, einer Art Ausschluss aus dem Kanon der Gesellschaft.“
Margherita Vicario stellt sich ihrem Sujet erstaunlich locker und spielerisch – sie hat als Musikerin ohnehin ein gutes Gefühl für Rhythmus, das sie gleich in der Eröffnungspassage demonstriert, wenn sie die Küchen- und Hofarbeiten, das Geschirr und die Wäsche, die Kinder und das Geflügel ins Tongefüge der musizierenden Mädchen fügt und so den Tonfall des Films vorgibt.
Diese Mädchen leben geradezu in der Musik, die ihnen in dem ansonsten kargen und streng limitierten Alltag hilft. Allen vorweg die „Stumme“, die zunächst von jedwedem missachtet und als Magd ausgenutzt wird. Sie entdeckt im Keller des Ospedale ein neuartiges Instrument, ein Pianoforte, das ein Bewunderer der Musikantinnen den Mädchen vererbt und das der missgünstige Maestro Padre Perina unterschlagen hat, um es gewinnbringend weiterzuverkaufen. Der Padre jedoch hat ein sich von Tag zu Tag steigerndes Problem: er soll die Huldigungsmusik für den bevorstehenden Papstbesuch komponieren, leidet aber heftig an kreativer Impotenz.
Die Mädchen allerdings werden seit ihrer Piano-Entdeckung der in Wahrheit gar nicht stummen aber talentierten Teresa, Nacht für Nacht locker und fröhlich aber durchaus rivalisierend, die neuartige „Musikmaschine“ nutzen und möglicherweise ihren dominanten Padre austricksen…
Margherita Vicario:
„Mein Ziel war es, eine fiktive Geschichte in einen präzisen historischen Kontext voll interessanter Details einzubetten. Von Johann Andreas Stein, einem Klavierbauer, bis zur Wahl von Papst Pius VII. in Venedig, vom Niedergang der Serenissima bis zu den Kompositionen der Waisenmädchen, die denen der einzigen elternlosen Komponistin entsprechen, deren Werk bis heute überlebt hat: Maddalena Laura Lombardini Sirmen. Ich habe mich generell sehr um die Wahrhaftigkeit dieser Geschichte bemüht. Auch wenn sie, um ehrlich zu sein, voller fantastischer Blitze und musikalischer Zeitsprünge ist. Sie hat aber auch den Ehrgeiz, die tatsächlichen Bedingungen der Musikerinnen und Musiker in ihrer Zeit zu zeigen.“
War es schwierig, talentierte Schauspielerinnen zu finden, die gleichzeitig gute Musikerinnen sind?
Margherita Vicario:
„Es war eine lange Suche, denn ich hätte gerne echte Geigerinnen gefunden, aber eine Geigerin zu finden, die so lange in einem Film mitspielen kann, ist nicht einfach, also habe ich dann Schauspielerinnen geholt. Das Wichtigste beim Casting waren die Gesichter und auch die Stimmen, weil es meiner Meinung nach Stimmen aus anderen Jahrhunderten sein mussten. Ich habe also sehr gute junge Schauspielerinnen genommen, die 2-3 Monate lang mit einem Coach studiert haben. Sie haben hart gearbeitet, sie haben gelernt, zumindest so zu tun, als ob sie Geige spielen könnten.“
„GLORIA! ist all jenen Komponistinnen gewidmet, die wie gepresste Blumen zum Trocknen zwischen den Seiten der Geschichte verborgen blieben“ heißt es im Abspann des Films.
Anzumerken sei noch, dass die Regisseurin in Italien eine überaus populäre Musikerin ist. Man kann ihre Musikvideos u.a. auf YouTube finden, die meist einen über simple Videoclip-Ästhetik hinausgehenden gesellschaftlichen Gehalt haben. Und es gibt auch ein Musikvideo speziell zu diesem Film: „ARIA!“ – https://www.youtube.com/user/MargheritaVicario