Wandlitz: Zurzeit besteht mitten im historischen Dorfkern von Wandlitz in der Kirchstraße 11 eine große Baustelle. Viele wissen, dass sich dort die Wohnungsverwaltung und Kämmerei der Gemeinde befindet, einige wissen, dass auf einem Teil des Geländes die Hoffnungstaler Stiftung Lobetal ein Hospiz errichten wird und wenige wissen um die historischen Wurzeln dieses besonderen Ortes.
Wenn die Bauarbeiten fertig sind, soll in der Kirchstraße 11, dem letzten gemeindlichen Grundbesitz direkt am Wasser und mitten im Herzen des historischen Rundlingsdorfes, ein Bürgergarten entstehen. Damit käme diesem Gelände des ehemaligen Lehnschulzengutes eine sinnstiftende öffentliche Nutzung zu. Sie war seit 2005 im Gespräch. 2014 wurde eine gemeindliche Arbeitsgruppe „Nutzungskonzept Kirchstr. 11“ geschaffen, die in einem einstimmig verabschiedeten Beschluss der Gemeindevertretung 2016 ihre Vorstellungen in 10 Eckpunkten festschrieb.
Was macht Kirchstraße 11 besonders?
Allein schon die Lage! Es ist ein besonderer Flecken mitten im Dorf, direkt am See. Der Wandlitzer See verdankt seine Form als Halbmond oder Sichel der letzten Weisel-Eiszeit, die vor etwa 10.000 Jahre zu Ende ging. Gerade im Bereich seiner Halbinsel wiesen archäologische Funde nach, dass sich hier ein 5.000 Jahre alter Siedlungsplatz befand. Bereits in der Steinzeit durchstreiften Jäger, Sammler und Fischer seine Seeufer. Zwischen dem 5. bis 7. Jahrhundert ließen sich hier slawischen Fischer nieder und überlieferten den Ortsnamen „vandelice“, was in etwa bedeutet, „Menschen, die am Wasser leben“.
Als im 12. Jahrhundert die deutsche Ostkolonisation auch den Barnim erfasste, wanderten Bauern von westlich der Elbe zu. Ihre planmäßige Landnahme wählte auch diesen Ort der Wandlitzer Halbinsel als Heimstätte. Hier bauten sie unmittelbar neben wenigen slawischen Hütten ein sogenanntes Rundlingsdorf namens „vandelitz“. Bei der systematischen Ansiedlung wählte der mittelalterliche Treckführer (Lokator), der vom brandenburgischen Kurfürsten eingesetzt war, seine eigene Wohnstätte genau in diesem Flurbereich der heutigen Kirchstr. 11. Als Schulze (Bürgermeister) übte er die Gutsherrschaft und die niedere Gerichtsbarkeit vor Ort (Lehngericht) aus. Ihm gehörten mehrere Ackerstellen und bäuerliche Abgabenanteile, die Fischerei auf dem Wandlitzer See und der Zapfenzins vom Dorfkrug. Wandlitz wird erstmals urkundlich in einem komplizierten Land-Kauf-Tauschvertrag zwischen den Kurfürsten und dem Kloster Lehnin von 1242 erwähnt. Danach war es 300 Jahre Klosterdorf. Nach der Reformation überließ das Kloster Lehnin das Wandlitzer Lehnschulzengut einem gewissen Hans Robel. Danach wechselten die Lehnschulzen häufig. Ab dem 16. Jahrhundert fungierte das Lehnschulzengut eher als Kapitalanlage und das Lehnschulzenhaus diente oft nur als Sommersitz. Die lokale Machtstellung des Lehnschulzen endete erst Anfang des 19. Jahrhunderts, als die Erbuntertänigkeit der Bauern und der Flurzwang abgeschafft und die Landbewohner persönlich frei wurden. Der einst verstreut liegende Besitz des Lehnschulzens wurde durch die sog. Separation im 19. Jahrhunderts zusammengelegt. Bauernbefreiung und Flurbereinigung brachten dem Lehnschulzen als erstem eine zusammenhängende Bauernwirtschaft. Allerdings lag der neue Standort außerhalb des Wandlitzer Dorfkerns auf der Feldmark Richtung Basdorf-Zühlsdorf. Dort wurde 1853 ein neues Herrenhaus namens „Emilienhof“ erbaut, das am 22. April 1945 gezielt abgebrannt wurde. Die Ländereien des letzten Gutsbesitzers, Konsul Schroeder, der es inoffiziell in „Annenhof“ umbenannte, wurden im Zuge der Bodenreform enteignet und aufgeteilt. Das Lehnschulzenhaus im Dorf wurde Bauernwohnstätte. Der letzte Lehngutsbesitzer Albrecht vererbte es seiner Wirtschafterin, die den Gärtner Louis Otto heiratet. Aber sie konnten das Anwesen in den Wirren des Zusammenbruchs des Kaiserreichs wirtschaftlich nicht halten. Sie verkauften es 1920 an Freiherr von Waldheim, der es ebenfalls aus ökonomischen Zwängen aufgeben musste. Schließlich erwarb es 1927 der Landwirt Ferdinand Striemer, mit ihm begann eine neue Etappe.
Vom Geflügelhof Striemer zum Erholungsgrundstück
1927 wagte Ferdinand Striemer ein 41-jähriger Landwirt mit Frau und zweijährigem Sohn einen Neuanfang. Er wollte sich in der aufkommenden Geflügelzucht probieren und suchte gezielt ein Berlin nahes, passendes Anwesen: Wandlitz Kirchstraße 11. Der vollkommen abgeschlossene Besitz mit großer Seefront bestand aus dem alten Gutshaus und einem Schilf gedeckten Stall, alles in einem sehr herunter gekommenen Zustand. Striemer ließ das Wohnhaus grundlegend sanieren. Wandlitzer Handwerker (Mauer Todtleben, Zimmermann Wegener, Tischler Stuhl, Maler Drechsler) erneuerten das Wohnhaus 1927 rundum mit moderner Wasserversorgung, betonierten Kellerräumen, Zentralheizung usw. – so wie wir es heute noch kennen.
Beginnend mit einer Hühnerintensivzucht schuf Striemer die erforderlichen Stallanlagen und baute schließlich auf der Seelage einen Entenherdzucht auf. Neben dem Geflügelhof mit Brut und Aufzucht betrieb er auch noch Landwirtschaft, hatte Milchkühe und Mastschweine. Ihm gelang es während des Zweiten Weltkrieges sein Zuchtgeflügel vor möglicher Abschlachtung zu retten und als neuen Nebenbetrieb die Herstellung des Geflügeldüngers „Gartengold“ zu etablieren. Bei Kriegsende war Ferdinand Striemer als fast 60-jähriger nicht mit den Wandlitzer Bauerntreck vor dem Einmarsch der sowjetisch-polnischen Truppen geflohen. Bei der Befreiung war er es, der für die gebliebenen Dörfler mit den Militärs verhandelte und sich vor allem für die Ernährungsversorgung einsetzte. Striemer arrangierte sich rasch mit den neuen politischen Verhältnissen. Als Vorsitzender des Evangelischen Kirchengemeinderats stiftete er 1956 der Wandlitzer Dorfkirche zwei neue Apsis-Kirchenfenster. 1958 verpachtete der 73-jährige Striemer seinen Geflügelhof dem Berliner Magistrat mit Träger Volksgut Berlin-Buch. Das Volksgut errichtete einen Lehr- und Ausbildungsbetrieb und pachtete zusätzlich ab 1959 noch weitere Nachbargrundstücke hinzu. Dort wurden Wirtschafts- und Wohngebäude für die Ausbildung des Nachwuchses in der Geflügel- und Kleintierzucht gebaut.
Schon Mitte der 1960er Jahre lagen massive Beschwerden gegen die Entenzucht auf dem Wandlitzer See vor. Die Qualität des Wassers rund um die Entenzuchtanstalt verschlechterte sich ständig. Neben auftretenden Geruchsbelästigungen traten viele Schwimm- und Schwebstoffe (Federn, Kot) auf. Die von der Entenfarm ausgehende Verschmutzungszone breitete sich immer weiter aus, zeitweise bis ins gemeindeeigene Strandbad und die biologische Selbstreinigungskraft des Sees war nachhaltig geschwächt. 1970 kam es schließlich zur Einstellung der Enten- und Geflügelzucht am Wandlitzer See. Staatliche Stellen entdeckten das lukrative Seegelände für ihre Interessen. Inzwischen hatten sich die Karten neu gemischt: Ferdinand und Lucie Striemer verstarben beide 1970, es kam mit den Erben zu neuen Arrangements. Der Pachtvertrag für die Geflügelfarm lief 1972 aus und mündete in den Verkauf des Lehnschulzengrundstücks an den Rat des Kreises Bernau. Es wurde in Volkseigentum überführt und 1973 in die Rechtsträgerschaft des MfS gegeben. Striemers Sohn sicherte sich das Wohnrecht und da er auf den Rollstuhl angewiesen war, wurde ihm ans Lehnschulzenhaus eine Rampe gebaut, außerdem wurden noch Möbel des Staatssicherheitsministers Mielke eingelagert. Auf den benachbarten Grundstücken, die ebenfalls durch Pacht und Verkauf an staatliche Stellen kamen, erfolgten bauliche Veränderungen. Hier errichtete die SED-Bezirksleitung Berlin ihre Erholungsstätte „Karl Litke“ für verdiente Parteimitglieder. Das gepflegte und unauffällig bewachte Parteiheim wird heute als Hotel genutzt.
In diesen Plänen störte die Geflügelfarm in der Kirchstraße 11 sowohl ökologisch wie auch aus Sicherheitsgründen. Sie wurde stillgelegt und auf ihrem Gelände ein Heizwerk, das den gesamten neuen Komplex versorgte, errichtet.
Künftiger Bürgergarten und Hospiz
Angesichts dieser Nutzungsgeschichte ist es nach der deutsch-deutschen Einigung 1990 zu komplizierten Restitutionsverfahren und langwierigen gerichtlichen Auseinandersetzungen gekommen. Es dauerte jahrelang, die verworrenen Eigentumsverhältnisse zu klären. Es gab Anfechtungen, Erbauseinandersetzung, Abwicklungsfragen von SED-Vermögen, umstrittene Zuordnungen durch Treuhand und Amt für offenen Vermögensfragen, Widerspruchsverfahren, Einigungen und Urteile. Das SED-Erholungsheim wurde 1994 privatisiert und nach einigen Besitzerwechseln und umfangreichen Sanierungen eröffnete eine Hotelanlage. Das Grundstück Kirchstraße 11 wurde 1995 der Gemeinde Wandlitz zugesprochen. Diese nutzte das Lehnschulzenhaus für Wohnen und Verwaltung (zeitweise Sitz des Aufbaustabes des Naturparks Barnim). Später vergab sie ein Teilgelände inklusive des Lehnschulzenhauses in Erbbaupacht an einen Investor mit der Zielstellung altersgerechtes Wohnen zu realisieren. Dieses Projekt scheiterte, der Erbbaupachtvertrag wurde rückabgewickelt. Danach wurde die Idee des Bürgergarten mit anderem Flächenzuschnitt erneut in Angriff genommen. Es dauerte bis 2019 als die Hoffnungstaler Stiftung Lobetal den Zuschlag für einen Hospizbau auf einem kleineren Teilgeländebereich und ohne das Lehnschulzenhaus in Erbbaupacht erhielt. Im Juli 2023 erfolgte die Grundsteinlegung für das Hospiz.
Das Lehnschulzenhaus wie auch der direkte Zugang zum Gelände einschließlich des gesamten Seeuferbereichs bleiben in Gemeindehand – als Bürgergarten. Wie im Grundsatzbeschluss der Gemeindevertretung von 2016 festgehalten, wird eine naturnahe, sogenannte robuste Herrichtung erfolgen, d.h. keine Waldumwandlung, keine Bebauung. Der Steg soll ertüchtigt, der Bootsschuppen erhalten werden, die denkmalgeschützte Remise am Eingang könnte mit Toiletten ausgestattet werden und als „Geschichtsgucker“ Informationen zur Dorfgeschichte liefern. Aktuell wird eine moderne Regenentwässerungsanlage verlegt. Derzeit fungiert das Lehnschulzenhaus als reines Verwaltungsgebäude, aber vielleicht wird es perspektivisch mal zur Begegnungsstätte samt Café. Auf alle Fälle wird es höchste Zeit, dass der naturnahe Bürgergarten der Öffentlichkeit übergeben wird. Damit wäre das letzte in Wandlitz-Dorf verbliebene öffentliche Gelände direkt am Wandlitzer See unmittelbar erlebbar – und zwar für alle!