„Als Mary Lennox in das Herrenhaus Misselthwaite geschickt wurde, um dort bei ihrem Onkel zu leben, sagten die Leute, einem so unangenehm aussehenden Kind seien sie noch nie begegnet.“
Ein wenig vielversprechender Anfang für die Protagonistin von Frances Hodgson Burnetts Romanklassiker „Der geheime Garten“, als dieser 1911 zunächst auf Englisch erscheint. Dabei kann einem dieses zehnjährige Mädchen mit dem spitzen, mürrischen Gesicht, das genauso gelb ist wie ihre Haare, eigentlich nur leidtun. In Indien geboren, von der Mutter nicht erwünscht und an eine eingeborene Kinderfrau abgeschoben, die dafür sorgen soll, dass „Mem Sahib“ ihre Tochter ja nie zu Gesicht bekommt. Alle Diener laufen nach Marys Pfeife, damit sie bloß nicht wütend wird und schreit, ohne sich dabei aber wirklich um sie zu scheren. Was soll aus so einem Mädchen werden, als ein einsames, verzogenes Kind? Dann jedoch sterben alle an der Cholera – Mutter, Vater, die Kinderfrau. Marys einziger Anverwandter ist ihr Onkel in England, den sie noch nie gesehen hat.
Dort angekommen, lernt sie zum ersten Mal in ihrem Leben, was Freundschaft und Zuneigung sind, lernt, die Natur und das Leben wahrzunehmen und zu schätzen. Und sie findet den Geheimen Garten, der vor zehn Jahren verschlossen und dessen Schlüssel vergraben wurde. Auch dem geheimnisvollen Weinen, von dem alle Hausbewohner behaupten, es sei der Wind, geht sie auf den Grund und findet etwas völlig Unerwartetes.
Frances Burnett selbst liebte die Natur, liebte vor allem Blumen und bringt dieses Thema daher ganz intensiv in den „Geheimen Garten“ mit ein. Die bildliche, lebendige Sprache lässt die Pflanzen vor den Augen des Lesers erblühen und wird von den detaillierten Illustrationen Robert Ingpens noch unterstrichen.
Die Natur ist es, die Marys Leben einen Sinn gibt und ihre Gedanken aus der düsteren, verstockten Gleichgültigkeit in die Helligkeit einer vor Leben strotzenden Welt lenkt. Burnett setzt dabei ganz entschieden auf die Kraft der Gedanken, die Macht der Freundschaft und den Zauber des Glaubens an sich selbst. Wer nur düstere Gedanken hegt, kann nicht glücklich sein. Ein Buch, das den Leser nachdenklich und mit einem Lächeln auf dem Gesicht zurücklässt.