Der Feigenbaum des Titels meint die Würgefeige, die aus wenigen kleinen Samen zu einem riesigen Netz mit langen Luftwurzeln um einen Baum herum wächst und ihn schließlich erwürgt.
Iman (Missagh Zareh), ein vormals rechtschaffener Justizbeamter, muss – vom Regime der iranischen Revolutionsgarden und Sittenwächter befördert – jetzt deren Erwartungen erfüllen und beschleunigt die vermehrt anfallenden Todesurteile (bis zu 100 pro Tag) bestätigen, ohne vorher die Akten gründlich studieren zu können. Ein hoher Preis für einen höheren Lebensstandard. Dafür wird ihm aber eine Dienstwaffe zugeteilt.
Anton Tschechow sagte einmal: „Man kann keine Waffe im ersten Akt zeigen, wenn niemand die Absicht hat, daraus im letzten Akt einen Schuss abzugeben“. Und genau so läuft es – diese prestigefördernde Pistole wird bedrohlich durch die Dramaturgie des Films mäandern, bis sie schließlich ganz á la Tschechow losgeht.
Mohammad Rasoulof – Regisseur:
„Die Waffe symbolisiert eine Art Macht und die Anhäufung von Macht, die in den Händen des patriarchalen Systems liegt. Als sie dann verloren geht und die Angst vor dem Verlust der Waffe aufkommt fragt eine der Töchter den Vater, der zuvor sagte, er habe keine Angst, warum er dann überhaupt eine Waffe brauche, wenn er sich nicht fürchtet…
Das zentrale Thema dieses Films ist für mich die blinde Gefolgschaft. In den letzten fünfzehn Jahren, in denen ich ständig mit Zensoren, Ermittlern, Verhörbeamten und Richtern zu tun hatte und wir uns immer, wie an entgegengesetzten Seiten eines Tisches gegenübersaßen, dachte ich oft: Wie denkt derjenige eigentlich so?
Diese Frage war für mich wichtig, und ich wollte immer einen solchen Charakter in einer meiner Geschichten haben. Im Laufe der Jahre fügte sich das langsam zusammen, nahm nach und nach Gestalt an. Das half mir, einen Charakter zu entwickeln, der durchaus menschliche Eigenschaften besitzt, aber letztlich ein treuer Gefolgsmann der Macht wird.“
Mohammad Rasoulof ist einer der aktuell interessantesten Regisseure weltweit.
2020 wurde sein Film „Doch das Böse gibt es nicht“ mit dem Goldenen Berlinale-Bären ausgezeichnet, was ihm im Iran eine einjährige Haftstrafe inklusive Arbeitsverbot einbrachte. Nach dieser Haft drehte er konspirativ diesen eindrucksvollen Film. Rasoulof wurde inzwischen erneut verurteilt – diesmal zu 8 Jahren Haft mit Peitschenhieben. Es gelang ihm jedoch, gerade noch im letzten Moment, eine abenteuerliche Flucht nach Deutschland.
Mohammad Rasoulof – Regisseur:
„Im Iran fragte ich mich selbst, ob es bedeutungsvoller ist, als Filmemacher im Gefängnis zu sein oder meine Arbeit fortzusetzen. Jahrelang stellte ich mir die Frage, ob vielleicht eines Tages der Punkt käme, an dem ich meine Kamera nicht mehr auf iranischen Boden aufstellen könnte, und was ich dann tun würde.
Als die acht Jahre Haft endgültig feststanden, entschied ich mich, mit Hilfe der Freunde, die ich im Gefängnis kennengelernt hatte, das Land zu verlassen. Ich machte eine lange Wanderung durch die Berge und gelangte in ein Nachbarland Irans. Dort informierten wir mit Hilfe meiner Freunde und Familie, die in Deutschland waren, das deutsche Konsulat.“
Einen Tag vor Beginn der diesjährigen Filmfestspiele von Cannes wurde Rasoulofs Flucht öffentlich und DIE SAAT DES HEILIGEN FEIGENBAUMS lief gegen den Willen der iranischen Zensurbehörde im internationalen Wettbewerb, wo er mit dem Sonderpreis der Jury ausgezeichnet wurde.
Mohammad Rasoulof – Regisseur:
„Ein autoritäres System, eine diktatorische Macht verfolgt als wichtigstes Ziel die Menschen in der Gesellschaft von ihrem wahren Selbst zu entfremden. Tatsächlich will es aus ihnen ein einheitliches Modell machen, einen Charakter gemäß den Normen, die es der Gesellschaft vorgibt. Es versucht, eine gleichförmige Gesellschaft zu schaffen, die einem Standard entspricht und keine persönliche Identität besitzt.
Ich denke, dass die Frauenbewegung im Iran in ihrer jüngsten Phase, die vor zwei Jahren begann, das Wichtigste geleistet hat, indem sie dieser autoritären Macht das Signal gab: Sie möchte nicht mit diesem falschen Bild weitermachen.“
Setareh Maleki – spielt Tochter Sana:
„Es ist die Erkenntnis darüber, dass wir uns unserer eigenen Stärke bewusst werden – das macht dem System große Angst. Weil ab einem gewissen Punkt die Regierung ihre Macht nicht mehr zeigen kann.“
Mahsa Rostami – spielt Tochter Rezvan:
„Für mich war es genau diese Unterdrückung, die mich dazu brachte, diese Rolle anzunehmen und in diesem Film mitzuspielen. Ich musste meine Wut irgendwie zum Ausdruck bringen, und was wäre besser, als diese Wut durch Kunst auszudrücken. Für mich stand auch fest, dass ich auf keinen Fall jemals wieder mit obligatorischem Hidschāb (dem Kopftuch) vor eine Kamera oder auf die Theaterbühne trete.“
Der streng gläubige Protagonist Iman muss sein tödliches Richteramt natürlich anonym ausüben, während seine Töchter und deren Freundin sich durchaus für die eskalierenden Proteste der „nackt“ – ohne Hidschāb – auf den Straßen demonstrierenden Frauen interessieren. Währenddessen steht die Ehefrau und Mutter (Soheila Golestani) mit ihrer ambivalenten Haltung zwischen familiären Fronten.
Mohammad Rasoulof – Regisseur:
„Zunächst wollte ich eine Geschichte über eine Familie erzählen – eine Familie, in der ein Riss besteht. Das war meine wichtigste Idee: nämlich die Beziehungen in dieser Familie zu zeigen, wenn sie mit diesem Riss konfrontiert wird. Das berührt auch, wie die fanatischen Überzeugungen des Vaters sein Privatleben beeinflussen. Genau das ist es, was in der iranischen Gesellschaft vom Machtsystem den Menschen aufgezwungen wird. Daher gibt es in der Geschichte eine ständige Verbindung zwischen Macht, Patriarchat und dem, was innerhalb der Familie geschieht.“
Die bereits erwähnte Pistole verschwindet rätselhaft aus des Vaters Nachtschrank, der daraufhin geradezu wahnhaft misstrauisch wird und schließlich die Familie zwingt, mit ihm in das abgelegene Bergdorf seiner Kindheit zu fahren, wo er seiner Frau und den Töchtern den Prozess macht.
Mohammad Rasoulof – Regisseur:
„Ich war seit einigen Monaten im Gefängnis, als die WOMAN LIFE FREEDOM-Bewegung begann. Diese Erfahrung, von innen die Entwicklungen draußen zu verfolgen war interessant, denn ein Teil des Verständnisses der Ereignisse draußen zeigte sich im Verhalten der Menschen, die das Gefängnis verwalteten. Ein politischer Gefangener hatte einen ernsthaften und langen Hungerstreik begonnen und sein Zustand war sehr schlecht. Natürlich kümmerten wir anderen Gefangenen uns um ihn, weil er jeden Moment sterben konnte. An so einem Tag kam eine Gruppe hochrangiger Sicherheitsbeamter plötzlich herein, um seinen Zustand zu überprüfen. Einer von ihnen trat abseits der anderen zu mir. Er sagte, dass es ihm leidtue, Menschen wie mich im Gefängnis zu sehen, und dass er sich für die Situation schäme, dass seine Kinder ihn sehr unter Druck setzen und ihn fragen, was er im Gefängnis eigentlich tue. Er sagte auch, dass er es schwer erträgt, Gewalt und Unterdrückung auf den Straßen zu sehen und dass er jeden Tag, wenn er mit seinem Auto ins Gefängnis fährt, zur Gefängnistür hochblickt und sich fragt, an welchem Tag er dort selbst aufgehängt wird. Es war sehr seltsam für mich, solche Worte von jemandem zu hören, der im Gefängnis arbeitet. In diesem Moment entstand für mich die Filmidee.“
Diese nur scheinbar so ferne Geschichte von der bedrohlichen Evolution eines vormals arglosen Mitläufers rückt uns inzwischen augenfällig nahe. Die Rechtsaußen-Sittenwächter trainieren bereits ihre Zukunft – weltweit. Und wer nicht beim Geschichtslehrer Höcke Unterricht hatte, müsste zumindest ahnen, was folgt…
Wie war die Arbeit mit Regisseur Mohammad Rasoulof?
Mahsa Rostami – spielt Tochter Rezvan:
„Es war wirklich eine einzigartige Erfahrung für mich, weil ich wusste, dass es ein professionelles Projekt unter sehr schwierigen Bedingungen ist, in einer Situation, in der alles irgendwie ungewöhnlich war.
Aufgrund der Umstände bestand eine Distanz zwischen uns und dem Regisseur und wir mussten diese Distanz wahren. Aber ich kann sagen, dass wir trotzdem unser Bestes geben konnten.“
Setareh Maleki – spielt Tochter Sana:
„Es war eine wirklich besondere und seltsame Erfahrung. Man kann sie mit nichts anderem vergleichen. Und mehr noch als über die Arbeit mit Herrn Rasoulof, möchte ich über die Freundschaft mit ihm sprechen. Er hat uns jede Unterstützung und Hilfe gegeben.“
Mohammad Rasoulof – Regisseur:
„Wir leben in einer Zeit, in der das Konzept von Heimat eine neue Interpretation des Seins in einer vernetzten Welt erfährt. Heimat ist nicht nur Geografie.
Kultur kann durch diese vernetzte Welt auch im Fehlen eines geografischen Ortes existieren – in einer Zeit, in der man vielleicht ins Exil geschickt wurde und so ein neues Bild seiner Heimat entwickeln kann.
Viele Iraner sind gezwungen aufgrund der autoritären Struktur der Regierung ihr Land zu verlassen. Diese Gemeinschaft ist sehr groß geworden. Der digitale Raum ermöglichte eine Interaktion zwischen den Iranern im Land und den Iranern außerhalb des Landes. In einer Zeit, in der das geografische Iran unter den Stiefeln einer autoritären Macht steht, erhält das kulturelle Iran, eine tiefere Bedeutung, in der Hoffnung, eines Tages das geografische Land zurückzugewinnen.“
Deutschland hat als Co-Produzent diesen exzellenten Film in der Kategorie „Bester Internationaler Film“ für den Oscar 2025 vorgeschlagen. Und ab dem 26. Dezember können Sie sich von seiner Qualität in den Kinos überzeugen.