Als ich vor einigen Jahren die Gelegenheit hatte, Steven Spielberg zu fragen, was Film für ihn bedeute, antwortete er:
„Ich glaube nicht, dass mir Film heute mehr oder weniger bedeutet, als 1971, als ich DUELL drehte. Ich bin sicherlich auf vielfältige Weise gewachsen und hatte die Chance, viele verschiedene Arten von Geschichten zu erzählen. Aber Film war für mich immer die beste Möglichkeit, mich von meinen Dämonen zu befreien und damit meine Dämonen auf euch zu übertragen – denn das können Filme. Wissen Sie, wenn ich gruselige Filme mache, dann deshalb, weil ich vor etwas Angst habe. Wenn ich es in einen Film packe, kriegen andere Leute Angst und ich muss ich mich nicht mehr darum sorgen – der Nächste bitte!
Ich bin wahrscheinlich ein eklektischer Filmemacher, ich mache verschiedene Arten von Filmen über verschiedene Themen. Ich bewundere z.B. die Karriere von William Wyler, der von so unterschiedlichen Filmen wie MRS. MINIVER zu WEITES LAND, von BEN HUR zu DIE BESTEN JAHRE UNSERES LEBENS und sogar zu dem Musical FUNNY GIRL wanderte. Und Noël Coward (britischer Schauspieler, Autor und Komponist) gab David Lean einmal den Rat, nie zweimal aus demselben Loch zu kriechen. Aber ich habe diese Regel gelegentlich gebrochen und einen weiteren Jurassic Park oder noch einen Indiana Jones-Film gemacht. Ja, ich komme immer mal wieder aus demselben Loch heraus. Aber der Rest der Filme ist ziemlich eklektisch und ich bin stolz darauf…“
Jetzt hat Spielberg den Film zum Thema geliefert – DIE FABELMANS. Ein autobiografischer Film, eine Coming-of-Age Story, ein Familienfilm und vor allem eine zärtliche Liebeserklärung an seinen Beruf als Filmemacher. Wer, wenn nicht Spielberg, der in allen Kinogenres sattelfest ist, könnte das besser bieten.
Und also beginnt die Geschichte des jungen Sammy Fabelman (Spielbergs Alter Ego) mit seinem ersten erregenden Kinobesuch Anfang der 1950er. Er sieht mit seinen Eltern den Cecil B. DeMille-Film DIE GRÖSSTE SCHAU DER WELT, der als Action-Höhepunkt den Zusammenstoß der beiden Transportzüge eines Zirkus zeigt. Sammy jedenfalls ist schockiert – aber gleichermaßen so beeindruckt, dass der Achtjährige die Sache daheim mit seiner Spielzeugeisenbahn nachinszeniert, um den Effekt zu ergründen und damit den Beginn seiner kinematographischen Zukunft zu definieren.
Die Familiengeschichte wird getragen von einer brillanten Besetzung: Eine wie immer großartige Michelle Williams (BROKEBACK MOUNTAIN, 2005) ist die musische Mutter, die ihre Musikkarriere aber wegen der Kinder aufgeben musste. Der Vater, ein Computeringenieur, gespielt von Paul Dano (THERE WILL BE BLOOD, 2007) ist ein zurückhaltend, eher introvertierter Charakter, der in Sammys Kinoleidenschaft vor allem die ingenieurstechnische Seite sieht. Dafür ist der von Seth Rogen (BAD NEIGHBORS, 2014) gespielte Hausfreund Onkel Bennie, den alle in der Familie lieben, jemand, der Sammys aufkeimende Leidenschaft versteht und ihn unterstützt.
Steven Spielberg:
„Als ich am ersten Tag ans Set kam, musste ich mich wirklich zusammen-reißen. Ich wanderte alleine durch die Räume, hatte einen Kloß im Hals und ging hinaus, um mich für die erste Aufnahme vorzubereiten. Dann kamen die Schauspieler ans Set. Michelle Williams trägt exakte Nachbildungen von Kleidern, die meine Mutter getragen hat – ihre Lieblingskleider. Paul Dano sah genauso aus wie mein Vater. Ich sah Paul und Michelle zusammen dort stehen, und es gab einen kleinen Moment, in dem alles wie in Zeitlupe ablief, wie bei einem Autounfall. Ich sah sie einfach nur an und sah weder Michelle noch Paul. Ich sah Leah und Arnold. Ich sah meine Mutter und meinen Vater. Ich hatte das Gefühl, irgendwie meinen Verstand zu verlieren. Und was geschah dann? Michelle und Paul kamen beide auf mich zu und nahmen mich in die Arme. Wir drei umarmten uns, und es war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.“
Michelle Williams über die Arbeit mit Spielberg:
„Es war, als wären wir zwei Kinder auf einem Spielplatz. Es fühlte sich an, als ob alles möglich wäre. Jeder Tag war eine reine Freude. Ich habe mich noch nie freiwillig so früh auf den Weg zur Arbeit gemacht.“
Sammy wächst im Amerika der 50er und 60er Jahre auf. Bedingt durch den Beruf des Vaters ziehen sie oft um. Von New Jersey an der Ostküste geht es nach Arizona und schließlich an die Westküste, nach Kalifornien. Der wirtschaftliche Aufstieg der Mittelklasse-Familie Fabelman im Nachkriegsamerika wird von Spielberg unaufdringlich aber mit viel Gespür für Details inszeniert.
Der Junge inszeniert bald mit seinen Pfadfinder-Freunden clever arrangierte Western und Weltkriegsfilme, die Sammy wegen der mangelnden Mittel und der Lust am Medium frühzeitig Tricks und andere kinematographische Kunstgriffe, aber auch den Wert der Inszenierung aufspüren lassen. So wie er in den Urlaubsfilmen mit der Familie die Bedeutung von Körpersprache entdeckt. Es beginnt die offensichtlich unaufhaltsame Laufbahn eines legendären Geschichtenerzählers, der Steven Spielberg mit seinem erstaunlich reichen Oeuvre (nahezu 50 Filme!) nun einmal unbestritten wurde. Dazu kommen die humorvoll erzählten Eigenheiten dieser jüdischen Familie und ein zuweilen spürbarer Antisemitismus einiger Mitschüler. Der Junge steht das Mobbing durch, verliebt sich in die nicht-jüdische Monica, die, weil sie extremer Jesus-Fan ist, ihn als Judenjungen wie Jesus auch, gerade deshalb favorisiert. Als sich Sammys Eltern allerdings scheiden lassen, kann sie diese Todsünde dann doch nicht tolerieren.
Spielberg hat für den Teenager Sammy einen noch relativ unbekannten jungen Schauspieler gefunden, der als Kinderdarsteller und in einigen Fernsehserien zu sehen war. Dem Regisseur war es wichtig, dass der Junge nicht zu viel Selbstbewusstsein mitbringt – und Gabriel LaBelle bedient Spielbergs Vorstellungen vorzüglich. Das ist überhaupt ein großes Plus dieses Films – er ist uneitel und erzählt im Grunde bescheiden von Zufällen und Unwägbarkeiten. Behutsam entwickelt sich das Selbstvertrauen dieses erstrangigen Filmemachers.
Wenn Sammy am Ende des Films als Assistent vom Assistenten eines Assistenten sein Entree in den großen CBS-Fernsehstudios versucht, wird ihm eine 5-Minuten-Audienz beim Regie-Großmeister John Ford vermittelt, den übrigens Kultregisseur David Lynch (LOST HIGHWAY, 1997) mit viel Spielspaß freundlich karikiert. Ford lässt den Jungen ein paar Bilder ansehen und deuten – und der Meister insistiert, dass es eigentlich nur darauf ankommt, ob der Horizont hoch oder tief gelegt sei – dann ist das Bild interessant! Ist der Horizont aber in der Mitte, so ist es einfach nur langweilig…
Von solchen spielerisch funkelnden Szenen lebt DIE FABELMANS. Gleich zu Beginn des Films gibt es so einen anrührenden Moment, als der achtjährige Sammy (Mateo Zoryan) das Bild des Schmalfilmprojektors mit seiner Hand auffängt…
Bleibt noch ein dringender Hinweis auf Spielbergs unverzichtbare Mitarbeiter – Kameramann Janusz Kamiński z.B., der seit SCHINDLERS LISTE (1993) zu Spielbergs festem Team gehört und mehrere Oscars gewonnen hat. Für den Soundtrack lieferte – jetzt vermutlich zum letzten Mal – sein seit SUGARLAND-EXPRESS (1974) und danach für die Musik der meisten Spielberg-Filme zuständige, inzwischen 90-jährige Freund John Williams, die wie immer großartige, einfühlsame Filmmusik.
Die Schmalfilme übrigens, die Steven Spielberg in seiner Jugend gedreht hat, und die hier den künstlerischen Werdegang begleiten und belegen, wurden von Kaminski und Spielberg natürlich neu produziert.
Janusz Kamiński:
„Wir mussten Sammys frühe Filme möglichst gut machen, um dem Publikum glaubhaft zu vermitteln, dass die Person, von der sie stammen, schon in jungen Jahren dieses Talent hatte.“
Steven Spielberg:
„Ich wünschte, ich hätte die 8-mm-Filme so amateurhaft nachstellen können, wie ich sie als Kind gedreht habe. Aber im Jahr 2021, als ich den Film drehte, konnte ich einfach nicht widerstehen, einen etwas besseren Platz für die Kamera zu finden, als den, an dem ich sie 1961 platziert hatte. Das habe ich einfach nicht geschafft.“
DIE FABELMANS startet nach seiner Premiere auf der Berlinale am 9. März deutschlandweit in den Kinos.
Philipp Teubner