Ein karges Bergdorf irgendwo im Aosta-Tal, das von der Landflucht heimgesucht, nach und nach seine Bewohner verliert und die Infrastruktur einbüßt. Für den Turiner Stadtjungen Pietro, der mit den Eltern hier ein Feriendomizil findet, um – wie der Junge einmal sagt – „Dem Chaos der Stadt zu entfliehen“, ein geradezu poetisches Ideal. Er trifft dort auf den Bauernjungen Bruno, das einzige verbliebene Kind im vergessenen Dorf, für den das völlig unsentimental einfach nur seine Heimat ist. Beide verleben hier ganz jungenhaft wilde Tage in den Bergen, Wiesen, an den Seen, Wildbächen und verlassenen Gehöften.
Mit den Jahren wächst ihre Freundschaft, und als Bruno hoch droben auf dem Berg eine verfallene einsame Hütte ausbaut, steht irgendwann fest, dass er ohnehin hierbleiben und eine traditionelle Käserei betreiben wird. Sein Freund Pietro will wiederum Schriftsteller werden und ist dabei, die Welt zu entdecken, was ihn zwar auch in die Berge – aber bis weit fort nach Nepal zieht.
Das erzählt sich, wie es scheint von selbst. Wie selbstverständlich getragen und getrieben von den Anforderungen, Zufällen und Widersprüchen des alltäglichen Lebens. Zwei Jungen, die – zunächst als Kinder, später als junge Männer – immer wieder in den Bergen aufeinandertreffen, Freunde werden, sich verlieren und irgendwann wiederfinden.
ACHT BERGE basiert auf Paolo Cognetti gleichnamigen Bestseller, der mit dem italienischen Buchpreis ausgezeichnet und hier perfekt ins Filmische übertragen wurde. Und man sieht dem, und den unterschiedlich verlaufenden Lebensentwürfen, staunend und mit ungebrochenem Interesse zu. Hier wird nicht einfach eine Geschichte in den altbewährten dramaturgischen Gleisen erzählt. Und es ist mehr als nur ein Film über eine Freundschaft.
Charlotte Vandermeersch:
„In der Tat haben wir es als eine Liebesgeschichte betrachtet, denn natürlich ist Freundschaft Liebe. Und wie kann ich eine Geschichte über Freundschaft erzählen? Es geht immer darum, den anderen zu suchen, den anderen zu spiegeln – in einen Spiegel zu sehen. Sich danach zu sehnen, mit jemand anderem zusammen zu sein, dem Freund näher zu sein. Und es kann sein, dass du dich verabschieden musst und an deinen Freund denkst, wie es ihm wohl geht. Also ja, es ist wie eine Liebesgeschichte – sich aus den Augen verlieren, sich wiederfinden, voneinander lernen. Bruno trifft früher Entscheidungen im Leben – ich will meinen Vorfahren folgen, ich will in den Bergen leben, ein einfaches Leben. Während Pietro immer noch auf der Suche ist – was soll ich tun, die Millionen kleinen Jobs machen? Und als Bruno dann in Schwierigkeiten gerät, kommt Pietro, um ihm zu helfen.“
Zwei Personen, die den Film tragen – Wie habt Ihr Pietro und Bruno gefunden?
Felix van Groeningen:
„Die Antwort auf diese Frage ist kompliziert, weil wir über das Casting sprechen müssen, in dem Sinne, dass wir mit Luca Marinelli und Alessandro Borghi gearbeitet haben, die in Italien die besten Schauspieler ihrer Generation und wirklich sehr bekannt sind. Es war ein Geschenk, dass sie sich für unseren Film Interessierten. Wir haben sie sehr früh getroffen, kannten ihr Talent, waren uns zuerst allerdings unsicher. Das lag daran, dass sie sich zur jeweils anderen Rolle hingezogen fühlten, als die für die wir sie gecastet hatten. Die Persönlichkeiten, die sie im wahren Leben sind, stehen ein wenig im Gegensatz zu dem, was sie hier spielen. Es dauerte mehrere Monate, in denen wir vieles ausprobierten. Letztendlich entschieden wir uns für Luca als Pietro. Dann haben wir ihn mit vielen anderen Schauspielern getestet, Alessandro kam zurück und fand schließlich seinen Platz im Film als Bruno – ein erstaunlicher Bruno. So entgegengesetzt Luca und Alessandro sind, so gut passen sie zusammen und es funktioniert auf der Leinwand. Es gibt eine Art sechsten Sinn, den sie füreinander haben, wo sie sich gegenseitig spüren, wo sie neugierig aufeinander sind, wo sie synchron sind. Etwas Magisches passiert, wenn sie zusammen sind.“
Charlotte Vandermeersch:
„Ja, es ist interessant – Luca Marinelli lebt zwar in Berlin und ist ein italienischer Filmstar, liebt es aber auf seinem eigenen Berg zu sein, ein einfaches Leben zu führen. Er wählt nur ein Filmprojekt im Jahr, dem er sich dann komplett widmet. Während Alessandro Borghi herumreist, er ist ein Unternehmer, er investiert in Restaurants, er unterstützte auch dieses Projekt und macht fünf Filme in einem Jahr. Er kommt also viel mehr durch die Welt und diese Kontaktfreudigkeit ist eigentlich Teil von Pietros Charakter. Während das Klettern auf einen Berg, wie es bei Luca der Fall ist, eher Brunos Leben entsprochen hätte. Indem wir aber diese Männer – die Schauspieler – umgedreht haben, brachten sie eine andere Qualität in die Rollen ein, die ihre Figuren tatsächlich zum Blühen brachte.“
Am Anfang sind die Helden noch Kinder und sie agieren so natürlich. Wie war die Arbeit mit den Kinderdarstellern?
Felix van Groeningen:
„Wie bei der Regie von Erwachsenen ist auch bei Kindern das Casting der Schlüssel. Vielleicht sogar noch mehr, weil man meistens, wie in diesem Fall, mit Kindern anfängt, die keine oder nur sehr wenig Erfahrung haben. Viele Kinder träumen davon, so etwas zu tun, aber nicht viele Kinder wissen, was das wirklich bedeutet. Man muss also ihr Potenzial sehen, man muss das Gefühl haben, dass sie sich wirklich darin verlieren können, und trotzdem eine Verbindung zu dem finden, was sie wirklich sind. Ich glaube, wir hatten großes Glück.“
Charlotte Vandermeersch:
„Als wir mit den Kindern getestet haben, wussten wir, dass Pietro der eher intellektuelle Stadtjunge ist und Bruno der Wilde – sagen wir einfach ohne Regeln – der mit den Tieren in den Bergen lebt. Wenn wir zwei Jungs zusammenbringen, die so sind – sehr intellektuell und sehr wild, dann ist das irgendwie zu klischeehaft. Warum wohl sollten sie sofort Freunde sein, sie sind so unterschiedlich. Man muss vom ersten Moment an, wenn sie sich treffen, verstehen, dass da etwas ist: Lass uns spielen gehen! Und sie fangen an und es ist eine Explosion von Energie und Freude. Es ist einfach da, man muss das auf eine sehr instinktive Weise verstehen. Sie sind Freunde!
Wir entdeckten also, dass wir einen Pietro casten konnten, der selbst ein ziemlich wilder Junge ist, wenn auch auf eine ganz andere Weise als unser Bruno, der ein echter Bauernjunge aus den italienischen Alpen ist. Sie gingen zusammen wirklich auf Entdeckungsreise und hatten viel Spaß.“
Felix van Groningen ist bereits seit Jahren ein international bekannter Filmemacher. Sein THE BROKEN CIRCLE BREAKDOWN, für den seine Frau Charlotte Vandermeersch erstmalig am Drehbuch mitgearbeitet hatte, erhielt auf der Berlinale 2013 den Panorama-Publikumspreis. BEAUTIFUL BOY (2018), produziert von Brad Pitt, war Groningens erste US-Produktion. Jetzt ist er mit ACHT BERGE zurück im europäischen Kino und Charlotte Vandermeersch ist diesmal nicht nur Co-Autorin, sondern auch Co-Regisseurin.
Es fällt auf wie die beiden Filmemacher den Bildern vertrauen und ihnen die nötige Zeit geben, ihre Geschichte zu erzählen. Zudem wurde der Film im klassischen 4:3-Format gedreht.
Felix van Groeningen:
„Als wir in den Prozess eintraten, stieß ich auf Bilder von den Drehorten in einem quadratischen Format und plötzlich wurde mir klar, dass das wirklich gut funktioniert. Also habe ich das so vorgeschlagen. Zusammen mit Charlotte und Kameramann Ruben Impens fingen wir an, darüber zu diskutieren, und sie waren wirklich angetan davon. Doch dann bekam ich etwas Angst und fragte mich: Macht das wirklich Sinn? Also haben wir es getestet und wir haben einen Haufen Kameras, Objektive, Formate und Seitenverhältnisse ausprobiert und im Kino angesehen. Und es war klar, dass der visuelle Stil des Films geboren war, dass er funktionierte, dass er diesem Ort anders aussehen ließ. Für mich war es auch eine Wiederentdeckung dieses Formats. Ich hatte es seit meinen ersten kleinen Übungssfilmen in der Filmschule nicht mehr benutzt. Es gab mir eine Art Freiheit. Ich meine, der Berg ist vertikal, also passt es wirklich zu einem Berg, und die Art und Weise, wie wir unsere Figuren mit den Bergen im Hintergrund einrahmen konnten.“
Sie kommen aus Belgien, das ja nicht eben berühmt ist für hohe Berge. Obwohl gerade flämische Maler wie Bosch, Brueghel, Patinier Weltlandschaften mit viel Hochgebirge gemalt haben. Woher kommt diese Affinität zum Hochgebirge?
Felix van Groeningen:
„Ich weiß es nicht – aber es ist eine gute Frage.
Wahrscheinlich, weil wir keine Berge haben, also sehen wir uns nach ihnen. Ich persönlich bin, seit ich mich erinnern kann, immer nach Frankreich gefahren, in einen kleinen Ort in den Bergen im Zentralmassiv, Auvergne. Ein Teil meiner Familie lebt dort. So haben wir jeden Sommer dort verbracht – es ist ein wunderschöner, sehr abgelegener Ort, der etwas Magisches hat, weil er nur dir gehört. Und ich glaube, das ist es, was die Menschen in den Bergen suchen: weit weg von der Welt zu sein, mit den Elementen bei sich selbst.“
Charlotte Vandermeersch:
„Ich schätze, die Berge waren für mich immer etwas ziemlich Exotisches. Ski- oder Snowboardfahren sind eine eher touristische Art, in den Bergen zu sein. Ich bin nur in den trockenen Bergen gewesen – ohne Schnee, im Himalaya. Dass Bruegel und die anderen flämischen Künstler so viele Berge malten, da schätze ich, kopieren sie die italienischen und die deutschen Maler. Wohl auch aus diesem Wunsch nach anderen Landschaften. Das war mir bis jetzt nicht bewusst.“
Der Titel ACHT BERGE gründet sich auf eine Weisheit aus dem Himalaya: „In der Mitte der Welt befindet sich ihr höchster Gipfel, der Sumeru, umgeben von acht Meeren und acht Bergen. Die Frage ist: „Wer erlangt mehr Weisheit? Derjenige, der alle acht Berge bestiegen oder derjenige, der den Gipfel des Sumeru erklommen hat?“
Und der Film erzählt von den kleinen Dingen des Lebens, deren Bedeutung irgendwann im Leben wächst – die Autoren sagten das einmal so: „Wir wollten einen monumentalen Film machen, der durch kleine Gesten erzählt wird. Eine Ode an die Verletzlichkeit und die Stärke eines jeden Lebewesens, egal ob Mensch, Tier, Pflanze oder Berg. Ohne jede Form von Zynismus.“