Die Regisseure nennen sich die Daniels, denn der eine heißt Daniel Kwan, der andere Daniel Scheinert, und sie sind offensichtlich zwei filmverrückte Typen, die ihr eigentlich unüberschaubares Stück fest im Griff und tatsächlich in nur 38 Tagen abgedreht hatten.
Das multifunktionale Zentrum des Films ist Schauspielerin Michelle Yeoh. Sie spielt Evelyn Wang, eine in die Jahre gekommene Waschsalonbetreiberin.
Es ist eine klassische Einwander-Geschichte. Geboren in China und mit der Hoffnung auf ein besseres Leben, in die USA übergesiedelt, erweist sich der neue Alltag als ständige Herausforderung. Evelyn fragt sich noch immer, ob ihr zu weicher Ehemann ohne sie überhaupt hätte überleben können. Dazu kommt ihr fordernder und zunehmend seniler Vater, dem sie vor allem, während sie gerade die Steuerunterlagen vergeblich zu ordnen versucht, rechtzeitig die perfekt gekochten Frühstücksnudeln zu servieren hat. Und eine Tochter, die mit den überkommenen Traditionen hadert und zu Evelyns Leidwesen eine lesbische Beziehung führt.
Michelle Yeoh:
„Bei EVERYTHING…, oh mein Gott, ich glaube, das muss in dem Moment angefangen haben, als ich das Drehbuch bekam. Glücklicherweise kam ich nach L.A. und musste mich mit den Daniels treffen. Ich nehme ein Projekt nur dann an, wenn es mit echter Leidenschaft betrieben wird. Und wenn ich mit den Filmemachern spreche, muss ich die Leidenschaft in ihren Augen sehen. Ich muss hören, dass es von Herzen kommt. Denn ich werde meine Familie und die Menschen, die ich liebe, nicht für drei, vier Monate am Stück verlassen, nur weil ich ein Lippenbekenntnis zu etwas ablege, an das ich selbst nicht glaube. Wie wollen Sie mich überzeugen, da mitzumachen? Als ich dann das Drehbuch las, spürte ich, das ist etwas von dir selbst… Nein, das ist etwas, auf das ich schon lange gewartet habe! Das wird mir die Möglichkeit geben, meinen Freunden, meiner Familie, meinem Publikum zu zeigen, wozu ich fähig bin, lustig zu sein, echt zu sein, traurig zu sein. Endlich hat jemand begriffen, dass ich all diese Dinge tun kann.“
Mit ihrer ganzen Familie macht sie sich auf, um bei einer symptomatisch ätzenden Steuerprüferin – Jamie Lee Curtis (HALLOWEEN, 1978 / 2018) – anzutreten. Das wäre so fast der ganze erzählbare Inhalt, der Rest ist Kino pur.
Schon auf dem Weg zur Steuerprüfung überwältig Evelyn Wang im Lift das allgemeine Chaos und der konkrete Stress, indem es sie in ein Multiversum katapultiert, in dem ALLES und ÜBERALL AUF EINMAL sein kann. Was, wie sich denken lässt, für Evelyn nicht das reine Vergnügen wird. Für den Zuschauer schon, denn er gerät jetzt ebenfalls in ein Multiversum aus Martial-Arts-Kino, Science-Fiction, Sozial-Drama, Romanze und allgegenwärtiger Action. All das kunstvoll gespickt mit Referenzen an andere Filme – von MATRIX bis RATATOUILLE.
Dafür braucht es natürlich ein Talent wie Michelle Yeoh. Wir erinnern uns an TIGER & DRAGON (2000), dieses wunderbare Martial-Arts-Märchen des Meisterregisseurs Ang Lee (BROKEBACK MOUNTAIN, 2005). Man kennt sie aber auch als besonders furioses Bond-Girl in DER MORGEN STIRBT NIE (1997) an der Seite von Pierce Brosnan.
Jetzt also kann sie ihr vielseitiges Talent im entmutigenden Steueramt mit einem gehörigen Schuss Parodie präsentieren und der erstaunlich uneitlen Jamie Lee Curtis (mal mit Bäuchlein und manchmal auch mit Hot-Dog-Fingern) einheizen. Denn Deirdre Beaubeirdra, die herzlose Bürokratin, hat für Evelyns Zettelchaos aus Rechnungen nur eine Anmerkung „Das sieht nicht gut aus!“ und moniert u.a. die angeführte Karaoke-Maschine plus die diversen Tätigkeiten: Schriftstellerin, Gesanglehrerin, Sängerin… Alles nur schwer absetzbare Werte für ein Waschsalon-Business.
Evelyn, von Steuerrecht und Amtssprache überfordert bleibt da gar nichts weiter übrig, als ins irgendwo befindliche Nirgendwo abzudriften. Dieses Switchen durch die Dimensionen hat offensichtlich mit jener Reizüberflutung zu tun, der wir alle unausgesetzt ausgesetzt sind – Evelyn Wang kann das nur nicht mehr zügeln. Sie durchlebt ihr Leben und alternative Lebensentscheidungen im Zeitrafferrhythmus und gerät in die aberwitzigsten Situationen.
Und sie muss, was sie im realen Leben nicht kannte, feststellen, dass sie zudem eine begnadete Kung-Fu-Lady ist. In einer anderen Realität ist sie ein gefeierter asiatischer Kinostar – ganz wie es Michelle Yeoh selbst ist – eine Verneigung der Daniels vor ihrer Darstellerin.
Dieser atemraubende Trip durch die diversen Dimensionen und Tempi bringt sie am Ende zu sich selbst zurück. In der letzten Martial-Arts-Auseinandersetzung mit ihrer schon speziellen Tochter wird die heftige Kampfpose schließlich zu einer Umarmung. Auch als Versuch der Regisseure, irgendwie auf das uns alle umgebende allgemeine Chaos zu antworten.
Im Übrigen ist natürlich ein gehöriges Quantum Witz, Spielfreude und erstaunlicher Ideenreichtum dabei, was für diese überbordende Reise durch die unterschiedlichsten Universen auch nötig ist.
Michelle Yeoh:
„Ich versuche nie, mich selbst in die Figur hineinzuversetzen, denn ich sehe sie als eine echte Person, die echte Emotionen haben muss, einen eigenen Weg. Was ich in Evelyn sah, war eine hart arbeitende Immigrantin, die so sehr versucht, ihre Familie zusammenzuhalten, um in den Augen ihres Vaters Erfolg zu haben und zu beweisen, dass sie eine gute Tochter ist. Und ich sehe Evelyn in so vielen Menschen um mich herum. Ich hatte das Gefühl, dass ich ihre Geschichte erzählen muss, aber nicht auf die übliche Art, denn die Daniels präsentieren sie auf eine so psychedelische, verrückte, wahnsinnige, zeitgenössische Weise. Manchmal kann man in der Science-Fiction wirklich zu den Sternen und quer durch die Universen reisen, so wie wir es getan haben, und trotzdem glaubwürdig und glaubhaft sein, weil dies das Universum ist, das wir geschaffen haben. Ich denke, das war die Herausforderung. Und es hat mich als Schauspieler geerdet, denn ich habe diese Figur tatsächlich gefühlt.“
Und auch Jamie Lee Curtis beängstigende Steuerprüferin wird im Laufe des Filmes immer vielschichtiger und gibt dieser begnadeten Schauspielerin die seltene Gelegenheit einen scheinbar klischeehaften Charakter in aller Komplexität zum Leben zu erwecken und weiterzudenken.
Jamie Lee Curtis:
„Für mich ist Film die Gelegenheit, in den Schuhen eines anderen Menschen zu wandeln. Sie sind der erste, der das Wort „seltene Gelegenheit“ benutzt hat. Das ist interessant, weil es wirklich eine seltene Gelegenheit ist! Selten bedeutet etwas Einzigartiges, Kostbares und nicht Alltägliches. Wie zum Beispiel die STAR-WARS-Filme oder BLADE RUNNER – aber davon gibts eben nur wenige in der Welt des Films.“