Regisseurin Emily Atef – vielleicht kennen Sie ihren mehrfach preisgekrönten Romy-Schneider-Film „3 DAYS IN QUIBERON“ (2018) – verfilmte jetzt Daniela Kriens Roman IRGENDWANN WERDEN WIR UNS ALLES ERZÄHLEN (2011).
Emily Atef:
„Ich habe den Roman in die Hand bekommen und konnte ihn nicht loslassen – ich wollte ihn ganz langsam lesen, dass es nicht vorbei geht…
Ich habe noch nie einen Roman gelesen, wo ich vor mir den ganzen Film sah – mit Anfang, Mitte und Ende. Und ich sah beim Lesen die Szenen, die ich inszenieren wollte. Ich fühlte so sehr durch die Wörter von Daniela Krien diesen Sommer, dieses Begehren, dieses Sexuelle und das Politische – alles auf dem Lande. Das hat mich extrem angezogen und inspiriert. Das sexuelle Begehren einer jungen Frau, die sich gerade emanzipiert von einer Gesellschaft, die einem sagt, wie eine junge Frau zu begehren hat.
Und dann dieses „Amour fou“ halt – wo man nicht anders kann, außer begehren… Und das dies stattfindet ohne Dialog, weil man es nicht braucht, sondern sehr, sehr viel Schweigen. Wo nur die Gesten des Körpers, die Laute der Natur, der Insekten in diesem heißen Sommer – die Natur überhaupt Zeuge dieser „verbotenen Liebe“ wird.“
Es handelt sich um eine außergewöhnliche Lovestory in außergewöhnlichen Zeiten. Es ist 1990, irgendwo in Thüringen. Für die Bewohner eines abgelegenen Dorfes beginnt sich alles zu verändern. Und in dieser Melange aus Hoffnungen, Enttäuschungen, Erwartungen und Ernüchterung wächst unvermutet und überaus sinnlich eine Liebe. Der Film versucht ideologiefrei, warmherzig und sehr menschlich die Zeit, ihre Anforderungen und Hürden zu fassen. Emily Atef ist dafür offensichtlich genau die richtige Regisseurin – geboren in Westberlin, Kindheit in Los Angeles, Schulbesuch in Frankreich, Regiestudium in Berlin. Sie hat keine Affinität für das inzwischen geradezu obligate triste BILD-Zeitungs-Bild des Ostens, sondern entdeckt lieber Vergessenes und Verdrängtes. Und sie filmt das so, bis hin zu den erlesen und klischeefrei fotografierten Landschaften mit der dazugehörigen warmen Licht- und Farbstimmung.
Emily Atef:
„Was mir so wichtig war – und was auch im Roman von Daniela Krien so war – ist, wie lebendig diese Familie ist: die sind doch nicht Leute in einer Farbe – da ist auch nichts schwarz-weiß. Da gibt es die Gewinner dieser neuen Zeit, wie zum Beispiel Marias Freund Johannes, für den sich eine Möglichkeit öffnet, zu seiner Identität als Künstler zu finden, wie sein Vater als Bauer.
Oder Marias Mutter, die von einem Moment zum anderen einfach ihren Job verliert. Und nicht nur das, sondern auch eine Würde, wenn man, sagen wir mal, 30 Jahre in einer Fabrik gearbeitet hat und man auf einmal sagt: Das ist nichts wert, was du da gemacht hast. Das hat mich schon in der Geschichte sehr bewegt. Es war mir sehr, sehr wichtig, das so zu inszenieren, weil man da sieht, welches Leid die einfachen Leute eigentlich erleben, denn die leiden immer.“
Die Protagonistin des Films, Maria, gespielt von Marlene Burow (WUNDERSCHÖN, 2022), zieht sich lieber zum Lesen zurück. Auch wenn das eventuell auf dem Dorf als unangemessen, möglicherweise als Faulheit missdeutet wird.
Emily Atef:
„Ja, die Maria ist auch nicht ein normales 18/19-jähriges Mädchen, das auf dem Mofa mit zu ihrer Freundin und ihrem Freund zur Disco fährt. Sie sperrt sich lieber in einem Dachboden ein und liest „Die Brüder Karamasow“. Das zeigt einfach, dass dieses Mädchen ganz bestimmt eines Tages nicht mehr da sein wird. Und auch, wie Henner später sagt: Wenn du denkst, du liebst mich und willst bleiben – aber du wirst weggehen.“
Obwohl sie mit dem gleichaltrigen Johannes zusammen ist, wird sie eines Tages dem doppelt so alten Henner, gespielt von Felix Kramer (ZWISCHEN WELTEN, 2014) begegnen und in eine intensive Liebe fallen. Der Film erzählt dieses aktive, heftige Begehren entsprechend heftig und direkt.
Frage an die Schauspieler – war es schwierig, diese so hocherotischen, aber nie voyeuristischen Szenen zu spielen?
Marlene Burow:
„Ich habe als erstes nur so eine kurze Synopsis bekommen und da war‘s halt einfach nur so: „Jüngeres Mädchen – älterer Mann“, und ich dachte: Ahh O.K., mal gucken… Dann habe ich aber angefangen zu lesen. Und natürlich versuche ich da auch offen ranzugehen und kam aber sehr, sehr schnell weg von unserem gesellschaftlichen Bild oder von dem Zeitgeist, der gerade existiert und war einfach hin und weg von dieser Leidenschaft und dieser Geschichte, die so viel komplexer ist, als einfach nur zu sagen: Ja, das ist eine schwierige Beziehung und eine Beziehung, die nicht sein darf. Sondern es geht ja um so viel mehr. Es geht auch um diese großen Gefühle und ich dachte – das muss ich machen!
Wir hatten eine tolle Intimacy-Coordinatorin an unserer Seite. Das gibt‘s noch nicht so lang. Das ist eine Frau, Sarah Leigh, die nur dafür zuständig war, uns quasi die Angst zu nehmen, in diese Szene zu gehen. Dass wir uns frei fühlen und da nicht geschädigt wieder rauskommen. Wir haben sehr lange geprobt, sehr viel, sehr intensiv und Vertrauen aufgebaut. Man kann sich das so ein bisschen vorstellen wie einen Tanz. Wir haben eigentlich eine Choreografie gehabt – jede Berührung in diesen Szenen ist geprobt und abgesprochen. Das war dann die große Freiheit, als wir schließlich gedreht haben. Weil wir dann loslassen konnten.“
Felix Kramer:
„Und sich vor allen Dingen damit zu auseinanderzusetzen – was ist überhaupt Intimität? Wo fängt die an, wo hört die auf. Und mit diesem Bewusstsein in die Szene zu gehen, dass man in den Blick, in den Blickkontakt schon so viel mehr Erotik bieten kann als mit dem nackten Hintern. Das zu verstehen war für mich eine absolute Erleuchtung in der Arbeit.“
Wie würden Sie Maria beschreiben?
Felix Kramer:
„Maria ist für mich so ein Kraftzentrum der Geschichte. Eine junge Frau, die sehr gern und außergewöhnliche Bücher liest. Die sich heutzutage nicht mit Tik-Tok beschäftigen würde.
Maria ist für mich eine eigensinnige, aber auch eine sehr einsame Natur.
Kein flirrendes Wesen, um das man sich sofort sorgt und denkt: Um Gottes Willen, geh da nicht auf diesen Hof. Sondern: Die hält das aus!
Sie ist die viel stabilere Persönlichkeit im Vergleich zu diesem Henner – und Marlene hat das – Stabilität und Kraft und Selbstbewusstsein – so etwas braucht man, um diese Figur zu spielen, damit sie nicht zur Beute wird.“
Und wer ist Henner?
Marlene Burow:
„Henner ist ein sehr zurückgezogener Mensch, der, glaub ich, sehr viel zu kämpfen hat. Mit der Vergangenheit, mit der Gegenwart, der Zukunft – mit sich. Vor allem mit sich! Eine schöne Mischung aus – ein sehr einfacher Mann, der aber auch sehr intellektuell ist, der sehr viel vom Leben versteht. Und darin finden sie sich.“
Wie sehen Sie ihre Regisseurin Emily Atef?
Felix Kramer:
„Es war wichtig, dass Emily gar nicht diese Ost-West-Vergangenheit hat und denkt, sie muss jetzt Partei ergreifen oder jetzt mal gegen die Eigenen schießen, oder für die Ostler… Sondern, sie kommt von außen, guckt sich das an und hat diese Region ins Herz geschlossen.“
Der Film ist ohnehin vorzüglich besetzt – neben Marlene Burow und Felix Kramer sind u.a. Schauspielerinnen wie Jördis Triebel (EMMAS GLÜCK, 2006) oder Christine Schorn (ALLE REDEN ÜBERS WETTER, 2022) in eindrucksvollen Rollen zu sehen.
Emily Atef:
„Das gesamte Casting ist so ein tolles Ensemble, diese Familie. Ich find‘ die so wahnsinnig lebendig – es gibt so viele verschiedene Perspektiven, aber es wird zart auf sie geguckt.“
Felix Kramer:
„Dieser Film ist weit weg von Pittiplatsch und Aktuelle Kamera. Es fährt natürlich ein Trabant, aber lass ihn doch fahren. Dieser Film spielt auch noch in der Provinz, in Thüringen. Das ist nun wirklich sowas von deutlich die Sprache der Verlierer. In Berlin kann man ja noch ein bisschen mogeln und sagen West oder Ost.
Aber wenn du sächsisch sprichst oder Thüringisch, dann ist es verortet, dann bist du der Ostteil bist Verlierer, dann bist du jähzornig und wählst die falsche Partei. Aber was der Film schafft, ist, dass er mich das vergessen lässt, dass der universell ist. Der kann auch in Japan auf einem Dorf spielen, der kann in Texas sein. Es ist wichtig, dass es provinziell bleibt. Das eine gewisse Art der Aufklärung fehlt, dass diese Liebesgeschichte in einer Großstadt viel mehr Tarnung hätte.“
Es braucht also nicht immer Hollywood, um große Gefühle, ländliches Farmambiente, starke Charaktere und scheinbar einfache, am Ende aber überaus komplizierte Verhältnisse zu erleben: IRGENDWANN WERDEN WIR UNS ALLES ERZÄHLEN – ab 13. April im Kino.