Es ist so eine Sache mit den Naturfilmen. Das deutsche Kino und Fernsehen hat uns ohnehin nicht gerade verwöhnt mit eigenen Qualitätsproduktionen – wenn man da beispielsweise an den enormen Aufwand denkt, den die britische BBC regelmäßig für ihre Attenborough-Filme zu treiben pflegt. Auch aus Frankreich kommen bemerkenswerte Naturfilme mit einer ganz eigenen Handschrift – GENESIS, NOMADEN DER LÜFTE, MIKROKOSMOS oder DIE REISE DER PINGUINE etc.
Jetzt hat ein renommierter Filmemacher Frankreichs, Michel Seydoux, einen Film produziert, der im Vorjahr zurecht als BERLINALE-Beitrag gezeigt wurde: DIE EICHE – MEIN ZUHAUSE. Der Film kommt nun endlich in die Kinos, und er ist aus gutem Grund eine Empfehlung. Michel Seydoux ist übrigens auch der Co-Regisseur und Drehbuchautor seines zudem als Natur-Kameramann erfahrenen Kollegen Laurent Charbonnier (ANIMALS IN LOVE, 2008).
Der Film ist ganz einfach auf eine große Eiche (Geburtsjahr 1810) fixiert, die weit auslandend am Waldrand stehend das Zuhause und die Bühne eines erstaunlichen biodiversen Ensembles ist.
In Zeiten, in denen sogar Politiker (ehrlich oder nur als Show) Bäume umarmen, passt dieser Film doch irgendwie in den Zeitgeist?
Michel Seydoux:
„Nichtsdestotrotz haben wir keine Bäume umarmt…
Die Frage ist, lädt so ein Festival auch große Dokumentarfilme, möglicherweise große Tierfilme ein? Aber es gibt für die Festivals da keine Grenzen mehr und ich gratuliere den Berliner Filmfestspielen, dass sie inzwischen jegliches Genre einladen.“
Dem Zuschauer wird kein belehrender Ton aufgedrängt und man hat sich für die Gestaltung überhaupt frei gemacht von üblichen Ökofilmstandards.
Der Film kommt ohne gesprochenes Wort aus und ist trotzdem eine große Erzählung. DIE EICHE vermeidet zudem Vermenschlichungen à la Disney und ist spannend, anrührend und sogar witzig.
Michel Seydoux:
„Wir haben Augen. Der Wald spricht von selbst. Wir müssen lernen, ihn zu hören!“
Es beginnt mit einem Entree in einen sonnendurchfluteten Wald, das einem sofort Lust macht, tief durchzuatmen. Denn die Kamera ist en passant nicht nur ein Beobachtungsinstrument, sie liefert unausgesetzt starke Bilder.
Dann treten die Hauptdarsteller auf (auch im Deutschen passend mit „Eiche“ im Namen):
Eichelhäher, Eichhörnchen, und Eichelbohrer – ein winziger Rüsselkäfer, der mit raffinierten Makroaufnahmen zum Hingucker par excellence wird. Natürlich mit zahlreichen Statisten jeglicher zoologischen Couleur.
Aber zunächst wechselt das Wetter vom sonnigen Waldgenuss zum Gewitterregen mit den einschlägigen Auswirkungen auf die Lebewesen. Und mit der so besonderen Schönheit der Tropfen auf den Zweigen. Die Filmemacher entwickeln dies elegant zu einer eindrucksvollen Hommage an die sogenannten „kleinen Kreisläufe“, die für eine lebensvolle Ökologie unverzichtbar sind, und die wir durch eine grassierende Versiegelung der Oberflächen so exzessiv zerstört haben. Und dem Film gelingt es, ohne zu bevormunden, einfach nur zum Schauen und im Glücksfall: zum Denken zu verführen…
Michel Seydoux:
„Unser Film ist ein Märchen, das von der Realität inspiriert ist. Kein Dokumentarfilm über einen Baum – wir haben versucht eine Geschichte zu erzählen in einer klassischen Erzählweise – so als würde man einen Spielfilm drehen. Es gab eine Vielzahl von Dingen, die wir dafür bedenken mussten. Die Eiche selbst war ein wunderschöner Schauspieler und dann gab es viele Rollen um sie herum.“
Der 1. Akt gehört dann den Eichelbohrern oder Eichelrüsslern, deren Weibchen einen mindestens körperlangen Rüssel tragen. Wir sehen sie bei der Bohrarbeit an den Eicheln und dürfen dann ihrem Sex zuschauen, der von dem flotten Dean Martin-Oldie „Sway“ begleitet wird, was in den sogenannten „seriösen“ Naturfilmen undenkbar wäre. Nach dem Sex wird das Männchen – es hat seinen Job getan – tot vom Baum fallen, das Weibchen legt sein Ei in die angebohrte Eichel, und wir können übers Jahr immer wieder einmal den Zustand der faszinierend gefilmten Larve und Puppe bis hin zum neuen Käfer beobachten.
Eichelhäher und Eichhörnchen sind eher das Buffoteam und ständig in Action.
Der Baum ist tatsächlich von besonderer Schönheit – und immer eindrucksvoll anzusehen, auch wenn nur ein Stück Borke mit Moospartien gezeigt wird.
Michel Seydoux:
„Wir hatten tatsächlich ein sehr langes Eichen-Casting und haben uns Eichen im Wald und Wiesen angesehen. Am Ende ist uns dann diese eine Eiche direkt an einem kleinen Teich ins Auge gefallen. Es ist natürlich auch im Film nur diese einzige Eiche, und die ist uns besonders wichtig, weil sich dort eben sehr viel Leben abspielt, und weil das Wasserleben hinzukommt. Ein anderer Vorzug war, diese Eiche ist nur 700 Meter vom Haus von Laurent Charbonnier entfernt. Er konnte also problemlos zu Fuß gehen, was für 14 Monate Drehzeit auch nicht schlecht war. In diese Zeit fiel auch der Corona-Lockdown: Es gab keine Flugzeuge mehr am Himmel, es gab keine Holzfäller die Kettensägen benutzten, es gab keine Spaziergänger und keine Jäger mehr. Der Wald war der Natur zurückgegeben. Wir hatten also das Glück, diesen bestimmten Zeitpunkt zu haben, in dem man drehen konnte und auch die Tiere waren ruhiger und entspannter.“
Die Eiche ist die standhafte Position im wechselvollen Jahreskreis. Der Baum lädt im Herbst von den Eicheln sammelnden und versteckenden Eichhörnchen und Hähern bis zu den Hirschen, Wildschweinen etc. das Waldvolk zur Eichelmast. Dann der Winter mit seinen besonderen Bildern…
Zwischendurch eine aufregende Actionszene mit einem Habicht, der den Eichelhäher durch den Wald jagt. Schwer vorstellbar, wie das Filmteam das realisiert hat. Apropos, im letzten Moment verpasst der Habicht die Beute – ein Zugeständnis an den „Familienfilm“ – aber die Machart verblüfft immer wieder.
Michel Seydoux:
„Es war eine sehr interessante Arbeit. Wir hatten natürlich leistungsstarke Kameras ausgewählt. Meist haben wir mit einer Kamera gedreht, manchmal waren wir natürlich auch mit 2 oder 3 Kameras unterwegs. Dazu diese speziellen Makro-Kameras, diese besonders kleinen Kameras für die Insekten. Da aber alles im Vorfeld gescriptet und auch gezeichnet war, wussten eigentlich alle, was wir jeweils brauchten und was ihre Rolle war. Unterm Strich haben wir 50 Stunden Material für anderthalb Stunden Film gedreht. Da können Sie sich vorstellen, dass es beim Schnitt etwas zu tun gab…“
Der aufblühende Frühling dann mit einem bunten Konzert aller sangesfreudigen Waldvögel. Das folgende Brutgeschäft wieder mit einer Happy-End-Action-Szene: eine Äskulapnatter erklimmt den Baum, um sich bei den jungen Eichelhähern zu bedienen.
Dann eine Montage der ausfliegenden Jungvögel, wieder mit einem Stück Populärmusik – Glenn Millers „In the Mood“ – und es funktioniert!
Dies sind aber nur Anmerkungen, der ganze Film, zumal ein See mit seiner speziellen Population direkt neben der Eiche liegt, bietet ein erstaunliches Spektrum an Lebewesen, die man oft einfach übersieht. Ob sich nun Wildschweine am Baum schubbern oder eine winzige Etüde das Gefühl für die Fotosynthese vermittelt und das komplizierte Gespinst des Mycels einen Pilz wachsen lässt. Es bleibt eine Augenweide der ganz besonderen Art, die jedermann zum Hinsehen auf das Universum Eiche animiert.
Michel Seydoux:
„Vielen Dank! Das ist genau das, was wir zeigen wollten. Es stimmt, dass wir heute viele tolle Filme über exotische Tiere haben. Wir aber wollten über Tiere erzählen, von denen wir auch nicht allzu viel wissen. Wir wollten die Leute einfach anregen: schauen sie doch mal in den Garten, in den Park. Es gibt da eine Eiche, gehen sie hin. Alles, was ihr da seht, gibt es wirklich und man kann Zeit damit verbringen, das wäre großartig.“
Apropos – im Abspann werden dann die wichtigsten animalischen Darsteller mit ihrem deutschen und dem lateinischen Namen vorgestellt. Für den Fall, dass sie die nicht schon vorher erkannt haben.
DIE EICHE startet am 9. März in den Kinos.